Sonja Maria Decker

 

Aus dem Roman Das Dunkel zwischen den Lichtern

 

Im Treppenhaus blieb sie stehen. Vielleicht hatte sie hierher gewollt, denn sie fühlte sich nicht wohl im Treppenhaus. Sie haßte es sogar, aber ihr war nicht mehr schlecht. Erschöpft blieb sie stehen und lehnte sich über das Geländer. Es ging nur zwei Stockwerke hinab und anschließend in den Keller hinunter. Wie hoch es noch war, wußte Eva nicht. Es war nicht wichtig, denn die drei Stockwerke nach unten waren der Grund, aus dem Eva das Treppenhaus haßte. Es war nüchtern und monoton, so daß es keine Ablenkung von der Entscheidung gab, die es stets verlangte. Sie sah die kahlen, lila gestrichenen Wände hoch und wußte, daß sie sich irgendwo zwischen einer Uhr und der Wirklichkeit befand. Dort würde sie bleiben, denn sie fühlte, daß ihr niemand hierher folgen konnte. Die Grenze der Realität hielt alle von ihr fern. Natürlich konnte sie die anderen sehen, aber nicht hören. Ihr Anblick verletzte nicht, sondern versöhnte meistens, deshalb war es gut alles sehen, aber nicht hören zu können. Als sie dies dachte, fühlte sie sich glücklich. Sie lachte leise und froh und die kahlen Wände starrten neidisch auf sie herab. Eva konnte ihnen entgegensehen ohne sich zu fürchten, denn die Welt war dunkel, aber Eva war ein Licht.

Mitten in der Schwärze der Welt erblickte sie einen ebenfalls schwarzen Laufsteg. Er war nur fahl angestrahlt, so daß sich nur seine Kanten etwas von der übrigen Schwärze des Raumes abhoben. Auf dem Laufsteg waren zwei dunkelhaarige Frauen mit bleichen Gesichtern und dunklen Augen. Sie standen hintereinander und bewegten nur ihre Arme und Oberkörper. Die erste Frau trug ein weißes Kleid mit einem weiten Rock, der ihr ein Stück über die Knie reichte, und aufgeplusterten, kurzen Ärmeln. Um die Taille war ein breiter, weißer Gürtel, dessen Enden steif nach links und rechts abstanden. Die Frau dahinter trug das gleiche Kleid in Dunkelrot. Eigentlich war es zweimal die gleiche Frau. Die Farbe der Kleider war der einzige Unterschied zwischen den beiden. Ihre Gesichter waren ausdruckslos und ernst. Sie wirkten, als stammten sie aus vergangenen Zeiten. Vermutlich kam das von den hochgesteckten Haaren und außerdem waren es keine jungen Frauen.

Eva spürte eine Hand auf ihrem Rücken. Langsam drehte sie sich um und lächelte, denn sie hatte allen Grund, gut gelaunt zu sein. Sie hatte alles unter Kontrolle. Er stand hinter ihr und strich ihr über den Rücken. Seine Lippen bewegten sich, aber Eva konnte ihn nicht hören. Fast bereute sie es, denn er sah traurig, fast verzweifelt aus und sie hätte gerne den Anlaß erfahren, um ihm helfen zu können. Vielleicht würde sie ihm ansehen, was war, aber es würde schwer werden. Er war soweit weg, hinter der Grenze. Einsam stand er in der Realität herum, vermutlich mitten in dem lila Treppenhaus, das Eva lange nicht mehr sehen konnte. Sie drehte sich wieder um und sah auf den Laufsteg zurück. Natürlich konnte er das alles nicht sehen, aber vielleicht würde sie es ihm eines Tages zeigen.

Die zwei Frauen waren die Menschen. Eine dritte stieg zu ihnen auf den Laufsteg. Sie trug eine schwarze Hose und eine schwarze Bluse. Ihre braunen Haare reichten ihr bis zu den Schultern und ihr Gesicht war ebenso bleich wie das der beiden anderen. In den Händen trug sie eine sicherlich zwei Meter lange, glühende Zigarette. Mit erhobenem Haupt bewegte sie sich auf die beiden anderen, die inzwischen ebenfalls nach oben starrten, zu. Etwa drei Meter vor ihnen blieb sie stehen. Irgendwoher hatte sie plötzlich eine dunkelblaue Mütze, die sie über den glühenden Teil der Zigarette zog. Dann hielt sie diese wie eine Laterne über die beiden anderen. Durch die Mütze war das Glühen der Zigarette nicht mehr rot, sondern lila. Alles war in dieses lila Licht getaucht, das den Gesichtern einen geheimnisvollen Glanz verlieh. Die beiden Frauen bewegten sich unter der Lichtquelle, die sie dabei nie aus den Augen ließen. Auf ihren Gesichtern war die Verehrung dem Licht gegenüber offensichtlich geworden. Trotzdem war da keine Freude. Niemand freute sich über das Licht. Alle starrten nur voll Respekt, vielleicht sogar etwas ängstlich nach oben. Im Hintergrund erklang eine ruhige Melodie, die aus drei langgezogenen Tönen bestand.

»Die Sonne beschien die Menschen und alles war hell. Eines Tages ist sie in die Heide gestürzt und ihr lila Licht hat alles dort lila gemacht«, sagte die Frau mit der Zigarette, die sie gleichzeitig mit dem Ende ihres Gesagten fallen ließ. Als die Zigarette auf dem Laufsteg aufkam, gab es einen leisen Paukenschlag, und es wurde dunkel.

Um Eva herum waren vier Wände aus Erikablumen. Sie wuchsen einfach so senkrecht aus dem Boden und an der Decke hörten sie wieder auf. Der Boden blühte ebenfalls und etwas entfernt von Eva begann auf der einen Seite eine blühende Treppe nach oben und auf der anderen eine nach unten zu gehen.

Eva drehte sich um. Er stand immer noch da und redete stumm. Eva wollte ihm ein paar Blumen schenken, denn in Wirklichkeit weinte er. Die Blumen sollten ihn trösten, schließlich hatten sie das Licht der Sonne. Eva bückte sich und pflückte ein paar, die sie ihm hinhielt. Aber er nahm sie nicht. Er sah sie nicht einmal an, als seien sie gar nicht da. Eva wurde traurig, als sie begriff, daß er nicht einmal die Blumen sehen konnte. Mitleidig sah sie ihn an, aber wie sollte sie es ihm erklären, wenn er doch bereits mitten in dem Blumenfeld stand und es trotzdem nicht erkannte. Er zog sie am Arm die Treppe hinunter. Eva folgte ihm, denn sie hoffte, endlich den Grund seines Trübsinns zu erfahren. Es war schön, durch die Blumen zu laufen. Eva wußte plötzlich, wohin sie gehen würden, und sie bekam Angst. Hier oben war es doch so schön, aber sie würden nach unten, in den Keller, gehen, wo Lichter und Schatten waren. Eva wollte lieber bei den Blumen bleiben, denn sie war bereit aufzugeben. Das Licht war heruntergefallen, also mußte sie es nicht mehr im Himmel suchen. Der Raum im Keller war die Entscheidung, aber heute würde er anders sein, weil heute alles anders war. Eva wollte ihm sagen, daß sie aufgegeben hatte, aber sie konnte nicht reden und der in ihrem Kopf sagte, er habe schon immer gewußt, daß die Einsicht bei ihr zu spät sein würde. Aber woher wußte Eva, daß es immer zu früh oder zu spät, aber niemals rechtzeitig war, um aufzuwachen, wo sie die Zeit doch gar nicht kannte. Es war egal, woher sie es wußte. Wichtig war nur, daß sie es wußte, und deshalb war es gut, daß der in ihrem Kopf sie daran erinnert hatte, daß sie nicht aufwachen wollte. Also war es gut in den Keller zu gehen. Vielleicht würde heute dort alles anders sein, aber das würde sie verkraften müssen. Zur Not würde sie wieder am Anfang beginnen und alles neu aufbauen. Schließlich war das Licht der einzige Grund ihres Kommens, und was war ihr Leben schon noch wert, wenn sie erst das Licht vergessen hatte. Dann würde sie Photos, Bilder, Erinnerungen und Wissen haben und sie würde im Dunkeln stehen.

Als sie den Ausgang erreichten, hörten die Blumen mit einem Mal auf. Nun führte die Treppe nur noch weiter in den Keller und dort gab es keine lila Blumen. Eva vertraute ihm. Bisher hatte er immer recht gehabt, aber sie verstand nicht, weshalb er ihr nicht in den Traum gefolgt war. Alles hätte so schön sein können. Alles hätte eine Wiese sein können, aber nun war es eine Treppe in den Keller.

Eva hörte ihre Füße auf den Boden auftreten. Sie hörte auch, was er sagte. Für kurze Zeit war sie zurückgekehrt, um den Weg in den Keller zu gehen.

   

   

© Sonja Maria Decker 1998. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Alkyon Verlages. Dieser Roman ist im Buchhandel und Internet-Buchhandel erhältlich, z.B. bei amazon.

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