Ricardo Güiraldes

13.2.1886 bis 8.10.1927

Geb. in Buenos Aires, gest. in Paris. Seine Jugend verlebte er auf der bei San Antonio/Buenos Aires gelegenen Estancia seiner Eltern. Studien der Architektur, Jura und Sozialwissenschaften brach er vorzeitig ab. 1910 reiste er zum erstenmal nach Paris, wo er insgesamt mehrere Jahre zubrachte und Zugang zur französischen Literatur der Avantgarde gewann. Andere Reisen führten ihn nach Indien und Japan. In den 20er Jahren war er Mitarbeiter von »Proa« und »Martín Fierro«, den Zeitschriften des Ultraismus. Seine Persönlichkeit als ebenso stark heimatverbundener Argentinier wie intimer Kenner der europäischen Literatur bewirkte den Zusammenhalt der Gruppe, deren Auflösung dann bald nach seinem Tod eintrat.

Auch mit seinem Werk ist die Entwicklung dieser Bewegung aufs engste verknüpft. Sein erstes Buch, der Gedichtband El cencerro de cristal (1915), stellt laut Borges die Verbindung dar zwischen Lugones' »Lunario sentimental« und dem ultraistischen Programm einer von der Metapher aus gehenden, die konventionellen Grenzen zur Prosa überschreitenden Poesie. Allgemeine Indifferenz ist allerdings der Preis für das um einige Jahre verfrühte Erscheinen dieser Gedichte.

Das Werk, in dem Güiraldes' literarisches Schaffen gipfelt, der Roman Don Segundo Sombra (1926), bedeutet dann die größte Leistung wie auch die Überwindung des Ultraismus durch seinen im Programm nicht vorgesehenen Gehalt an Menschlichkeit. Verschiedene Verbindungslinien führen von seinen übrigen Werken zu Don Segundo Sombra. In den sentenziösen Dialogen der Pampabewohner und den impressionistischen Skizzen von Cuentos de muerte y de sangre (1915) kündigt sich bereits etwas von dessen Sprachgebung an.

Das autobiographische Element, das später objektiviert und sublimiert wird, steht in dem Roman Raucho (1917) im Vordergrund. Die Hauptperson ist ein reicher Argentinier, der in Paris um Vermögen und Gesundheit kommt und sich nach den ländlichen Gefilden seiner Jugend sehnt, zu denen er dank der Hilfe eines Freundes zurückfindet.

Etwas abweichende Wege schlägt Güiraldes mit Rosaura (1922) und Xaimaca (1923) ein. Das erste Werk ist ein melancholischer, ironisch getönter, ländlicher Liebesroman, das andere die Chronik einer Reise von Buenos Aires nach Jamaica, während der sich diskret eine Liebesgeschichte abspielt.

Die poetische, metaphernreiche Diktion im letzten Werk ist die direkte Vorstufe zu dem in Don Segundo Sombra völlig gelösten Stilproblem. Hier entspricht die Bildlichkeit der Sprache so vollkommen der dargestellten Wirklichkeit, dass als natürlich und realistisch erscheint, was äußerstes stilistisches Raffinement ist. Außerdem verbirgt sich eine durchkomponierte Romanstruktur hinter einem scheinbar zwanglosen, undramatischen Handlungsverlauf. Erzählt wird aus der Perspektive eines zu Anfang halb verwahrlosten Jungen, der unter der väterlichen Anleitung des Gauchos Segundo Sombra den »männlichsten aller Berufe« erlernt, schließlich erfährt, wer sein Vater ist und dessen Grundbesitz erbt. Im Verlaufe der Lehrzeit wird das Leben der Pampabewohner mit seinen Härten und Unterhaltsamkeiten, mit seinen Mysterien und Dramen geschildert. Don Segundo ist die Ideal gestalt eines Gaucho, ein Meister in allen Künsten seines Berufes, ein großartiger Geschichtenerzähler, ein treuer Freund, ein lakonischer Philosoph, kurz, ein vollendetes Produkt der Pampa. Dem Erzähler erscheint er einmal als »etwas, das vorübergeht und das mehr eine Idee als ein körperliches Wesen ist«. Er verkörpert den Geist einer Zeit und einer Landschaft, der bereits der Vergangenheit angehört. Darauf mag Roberto Arlt angespielt haben, als er seinen Freund Güiraldes fragte, wann er endlich anfinge, etwas Ernsthaftes zu schreiben.

Weitere Werke (postum): Lyrik: Poemas místicos (1928), Poemas solitarios (1928), El libro bravo (1936), Pampa (1954); Erzählungen: Seis relatos (1929).

In deutscher Übersetzung

Das Buch vom Gaucho Sombra (Don Segundo Sombra). Autorisierte Übertragung von H[edwig] Ollerich. Berlin: Bruno Cassirer 1934. 341 S.

[Dasselbe]. Berlin: Deutsche Buch-Gemeinschaft 1935.

[Dasselbe unter dem Titel:] Don Segundo Sombra. Nachwort von Konrad Huber. Zürich: Manesse 1952. 349 S. Manessebibliothek der Weltliteratur

[Dasselbe]. Mit einem Nachwort von Hans-Otto Dill. Berlin: Rütten & Loening 1966. 283 S.

Ich ritt mit den Gauchos. (Don Segundo Sombra) Für die Jugend bearbeitet. Aus dem Argentinischen übertragen von H[edwig] Ollerich. Mit 35 Zeichnungen von Willy Widmann. Wien, Heidelberg: Carl Ueberreuter 1956. 200 S. ill.

[Dasselbe]. 1970. 211 S. Ueberreuter Bücherei.

Einsamkeit (Solo). In: Aus der Pampa. Dichtungen vom Silberstrom in deutscher Wiedergabe von Robert Lehmann-Nitsche. Einleitung von Hans Friedrich Blunck. (Unter Hinzufügung der spanischen Originaltexte.) Leipzig: F. Meiner 1940, S. 97.

Der Spuk in der Felsspalte. Übers. von Gerda Theile-Bruhns. In: Unter dem Kreuz des Südens. Erzählungen aus Mittel- und Südamerika. Herausgegeben von Albert Theile. Zürich: Manesse 1956, S. 115-122.

Allein (Solo). In: Bebendes Herz der Pampa. Gaucho-Dichtung. Übersetzt und herausgegeben von Albert Theile. Zürich: Arche 1959, S. 8.

Am Herdfeuer. Aus dem Spanischen von Maria von Gemmingen. In: Der weiße Sturm. Argentinien in Erzählungen seiner besten zeitgenössischen Autoren. Auswahl und Redaktion W. A. Oerley. Herrenalb/Schwarzwald: H. Erdmann 1964, S. 196-203, und in 2., bearbeiteter und ergänzter Auflage, Auswahl und Redaktion W. A. Oerley und Curt Meyer-Clason. Tübingen: H. Erdmann 1969, S. 73-80.

Aus: Dieter Reichardt, Lateinamerikanische Autoren. Literaturlexikon und Bibliographie der deutschen Übersetzungen. Tübingen: H. Erdmann 1969, S. 78-80.