Prosatexte von Wilhelm Hasse

 

Inhalt

Phoenix, der fliegende Fisch
Nichts war ihm nebensächlich
Wer schreibt, der bleibt
Endspiel auf La Palma
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Phoenix, der fliegende Fisch

   

Die englische Zeitung MILLENIUM kam als erste mit der Schlagzeile heraus: "Goldfisch überlebt Sturz durch den Schornstein". Weiter hieß es: "London. Ein Goldfisch ist in Northampton durch einen Schornstein auf die glühenden Kohlen eines offenen Kamins gefallen, ohne sich dabei ernsthaft zu verletzen. Unserem Reporter Julius Rastemgarski schilderte Mr. Edward Woodwell-Wishwash sein Erlebnis: "Ich beteiligte mich gerade am interaktiven Fernsehquiz und knobelte über die Jackpotfrage: Wie kommt Kuhscheiße aufs Dach? Ich hatte noch dreißig Sekunden, aber null Ahnung. Da wird mein Denkprozess jäh unterbrochen. Aus der Feuerung meines Kamins höre ich ein klatschendes Geräusch, dann ein Zischen. Ich lasse den Jackpot sausen. Schaue nach und sehe auf der fast erloschenen Kohle einen Goldfisch. Erst denke ich, na prima, Fisch ist gut für die grauen Zellen, denn ohne Phosphor kein Gedanke. Aber wie ich noch die Zubereitung überlege, sehe ich, wie der Fisch den Schwanz bewegt. Ich verstehe die Message sofort: Er lebt noch! Ich hebe ihn vorsichtig mit der Kohlenzange hoch, renne damit zur Küche, werfe Goldy in ein Einweckglas, jumpe ins Bad und schnell – Wasser, marsch! Tja, was sage ich: Der Mini-Flipper fängt sofort an, in dem kleinen Swimmingpool seine Kurven zu drehen. Putzmunter und nur leicht angesengt. Das heißt, er hat noch ein paar Kratzer, die ich mir nicht erklären kann. Und überhaupt, frage ich mich und Ihre Leser: Wie kommt ein Goldfisch – ich nenne ihn übrigens Phoenix – wie kommt Old-Phoenix in meinen Kamin?"

Eine Frage, die unversehens alle anderen Schlagzeilen aus den Medien des ausgehenden Jahrtausends verdrängte. Das Rätsel um Chimney-Goldy Phoenix wurde Tages- und Nachtgespräch. Wer bemühte sich nicht alles, das Geheimnis zu lösen oder wenigstens eine plausible Vermutung zu finden! Es dauerte nicht lange, da konnte MILLENIUM titeln: "Europa im Goldfischfieber!" Ein Meeresbiologe meinte, es müsse sich bei Phoenix um eine Art fliegenden Fisch handeln, eine Mutationsform vielleicht. Die Theorie wurde von Luftfahrt-Experten widerlegt. Ein Verhaltensforscher, der Phoenix monatelang in seinem von der Gesellschaft zur Erhaltung seltener Lebewesen gestifteten Aquarium beobachtete, konnte nichts Außergewöhnliches feststellen, nur dass seine Kratz- und Brandwunden allmählich verheilten. Millionen Fernsehzuschauer verfolgten Phoenix tagtäglich in einer Sondersendung live. Es wurden Wetten abgeschlossen, wann er wieder einmal fliegen würde. Aber er blieb in seinem nassen Element und schwamm auf einer bald weltweiten Woge der Sympathie. Tierpsychologen vermuteten, der Fisch habe bei seinem spektakulären Flug unter dem Einfluss von Hypnose gestanden. Andere argwöhnten, er sei mit bewusstseinserweiternden Drogen gefüttert worden, worauf er unter der Suggestion, ein Vogel zu sein, wahnsinnige Kräfte entwickelt habe. Übersinnliche Fähigkeiten wurden Phoenix auf einem Esoterik-Kongress zugesprochen, wo man davon überzeugt war, dass sein Astralkörper unter dem Einfluss einer günstigen Sternkonstellation die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben und Phoenix zu einer, wenn auch kurzfristigen, Elevation verholfen habe. Oder wurde er von Ballonfahrern als Ballast abgeworfen? Aber was hat ein Goldfisch in einem Ballon zu suchen? Computerfachleute errechneten aerodynamische Kurven, simulierten den Flug des Fisches, stießen aber immer wieder an die Grenzen physikalischer Gesetze. Selbst im Vatikan zu Rom diskutierten Theologen und Kirchenrechtler, ob man den Flug des Wasserwesens nicht als ein Wunder anerkennen solle, zumal bereits in frühchristlicher Zeit der Fisch als ein Symbol für den Glauben gegolten habe. Tier- und Umweltschützer hingegen veranstalteten Protestaktionen gegen den Rummel um Phoenix. Tausende gingen auf die Straße und forderten mit Sprechchören und auf Transparenten: "Freiheit für Goldy!". Kurz und gut: Um Phoenix und seinen sensationellen Flug ging es nicht nur in der Regierungserklärung des Premierministers, um ihn rissen sich Werbeagenturen und Sponsoren, T-Shirts mit seinem aufgedruckten Emblem gingen weg wie warme Semmeln, es gründeten sich Phoenix-Fan-Clubs, zwischen denen es zuweilen zu gewalttätigen Rivalitäten kam. Phoenix-Aktien waren an der Börse der große Renner, um die Rechte der Verfilmung seiner Heldentat gab es erbitterte Prozesse vor Gericht, ja es soll sogar fanatische Verehrer gegeben haben, die seinen Flug nachahmen wollten. Ihre Versuche endeten allesamt mit Absturz.

Das alles ging an unserem jetzt gutgenährten Phoenix spurlos vorbei. Er drehte seine Runden im Luxusaquarium und tat nichts, aber auch gar nichts, den Schleier des Geheimnisses um seinen Flug zu lüften. Selbst Logopäden der Universität Uppsala in Schweden, die glaubten, wer fliegen könne, der vermöge auch Laute von sich zu geben, brachten keinen Ton aus ihm heraus. Des Rätsels Lösung war zwei einfachen Menschen mittleren Bildungsgrades vorbehalten: Dem jungen Phoenix-Entdecker Edward Woodwell-Wishwash und seinem Nachbarn, dem Rentner Earnest Laughloud. Die Aufklärung erschien den beiden Gentlemen indes so banal, dass sie bei einer Flasche Whisky beschlossen, sie für sich zu behalten. Und zwar war der alte Laughloud erst kürzlich bei der herbstlichen Inventur seines Zierfischbestandes hinter die Sache gekommen. Sein geliebter Gartenteich war von Goldfischen bevölkert. Dazu zählte vordem auch der bis dato namenlose Phoenix. Der aber fehlte jetzt an der Zahl. Aha! rief Mr. Laughloud und drohte mit seiner Faust in Richtung Himmel, wo sein alter Freund ganz seelenruhig kreiste – ein Fischreiher, der an besagtem Gartenteich seit langem lebhaft interessiert war und den Mr. Laughloud glaubte, mit seinem Jagdgewehr längst vertrieben zu haben. Das war ein Irrtum. Denn eines Abends angelte sich jener Raubvogel den Goldfisch Phoenix, ein besonders fettes Exemplar, aus dem Teich, flog mit seiner Beute im Schnabel über Mr. Woodwell-Wishwashs Haus, wo er den zappelnden Fisch verlor, just über dem Schornstein und – plumps – fiel Goldy hinein.

So und nicht anders müsse es gewesen sein, erzählte Earnest Laughloud seinem Nachbarn. Aber sollte man diese mehr dem Zufall als einem Wunder zuzuschreibende Erklärung publik machen? Nein, sollte man nicht, schworen sich Edward und Earnest. Sie wollten den Mythos um Phoenix nicht zerstören, wollten den Menschen die einzige Illusion in dieser ereignislosen Zeit nicht rauben. Auch wollte man nicht Tausende von Schulkindern enttäuschen, die immer noch und immer wieder mit ihren Lehrern zu Goldy pilgerten, um das Staunen zu lernen. Also schwiegen die beiden Genlemen, tranken Scotch und belächelten das ganze Theater um einen kleinen Fisch, das kein Ende nahm.

Phoenix und mit ihm die ganze Goldfischspezies wurde zum Tier des Jahrhunderts ernannt. Er starb noch vor der Milleniumswende an Überfütterung, wurde betrauert, kunstvoll präpariert und im Museum of Natural History in London der Mitwelt präsentiert, der Nachwelt erhalten. Mr. Woodwell-Wishwashs Haus in Northampton steht heute unter Denkmalschutz, die Statue davor zeigt Phoenix überlebensgroß in Bronze gegossen. Darunter kann man die Worte lesen:

PHOENIX - THE FLYING GOLDFISH: UNFORGETTABLE FOREVER!

   

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Nichts war ihm nebensächlich

   

Alles war ihm wichtig. Wenn Harald etwas gefragt wurde, dann musste der Fragesteller eine Engelsgeduld aufbringen, denn Harald antwortete stets so genau und ausführlich, dass oft Stunden vergingen, bevor er zu einem Ende seiner Erklärungen gekommen war. Harald bemerkte manchmal gar nicht, dass sich sein Gesprächspartner längst davongemacht hatte, während er noch immer sprach – mit leidenschaftlicher Mimik, flammenden Blicken und schwungvollen Gebärden. Er hatte sich dann so in sein Thema hineingebohrt, dass er die Welt um sich herum vergaß. Mittlerweile hüteten sich seine Freunde, ihm irgendeine Frage zu stellen, ja sie vermieden es sogar, die Stimme am Ende eines Satzes zu heben, in der Furcht, Harald könnte solche harmlosen Sätze wie "Schöner Tag heute, nicht wahr?" für eine Frage halten und ihnen einen stundenlangen Vortrag über die Unberechenbarkeit des Wetters servieren.

Schon ein freundliches "Na, alter Junge?" führte bei Harald unweigerlich zu einer philosophischen Betrachtung über die Begriffe "alt" und "jung", denn, wie gesagt, nichts war Harald nebensächlich. Er nahm die Menschen ernst, während sie über ihn lachten. Und so blieb es nicht aus, dass die Zahl seiner Freunde rapide abnahm und nur noch selten sich jemand bei ihm meldete, und sei es auch nur mit einem Telefonanruf.

Neulich rief Petra an, seine Exfreundin, die er vor zwei Jahren mit einer dreitägigen Liebeserklärung in die Flucht geschlagen hatte. Harald meldete sich mit einem leisen "Ja", worauf Petra nachhakte: "Wer spricht da?" Das war das Ende vom eventuellen Neuanfang der Beziehung. "Das ist eine gute Frage" legte Harald hocherfreut los, "Wer spricht da! Also, nehmen wir mal das Fragewort 'Wer'. Ich hab neulich in einem Herkunftswörterbuch gelesen, dass es zwischen dem Neuhochdeutschen Wer und dem lateinischen Vir, das heißt Mann oder Mensch..." Petra legte seufzend auf, während Harald noch eine Weile monologisierte und den Satz "Wer spricht da" in seine etymologischen, linguistischen, grammatischen und philosophischen Bestandteile zerlegte.

Man kann sich vorstellen, wie es der jungen Dame im Reisebüro erging, die Harald freundlich lächelnd mit dem Satz begrüßte: "Was kann ich für Sie tun?" Sie brach nach drei Stunden vergeblicher Bemühung, Haralds Länder, Berge und Meere umfassenden Redeschwall zu dämmen, mit einem Heulkrampf zusammen. Ihre Kollegin, die mit der Frage "Was ist denn hier los?" herbeieilte, ließ sich Haralds Vortrag über Maßnahmen der Ersten Hilfe nur fünf Minuten lang gefallen, schubste dann energisch den Kunden aus der Ladentür und rief den Notarzt.

Die Metzgerfrau, die sich mit den Worten "Dürfen es zehn Gramm mehr sein?" beim Wägen der Leberwurst an Harald wandte, erfuhr in allen Einzelheiten – denn nichts war Harald nebensächlich – wie die alten Ägypter, die Phönizier, die Griechen und die Römer das Gewicht ihrer Waren bestimmten. Sie stopfte Harald nach einer Stunde eine Mettwurst in den Mund, an der er fast erstickt wäre. Diese Verzweiflungstat der guten Frau beendete seinen Vortrag, obwohl er erst bei Zahlen, Maßen und Gewichten in den Hansestädten des deutschen Mittelalters angekommen war.

Harald verstand nicht, wie oberflächlich die Menschen waren, und er beobachtete mit Entsetzen, wie kurz und bündig sie miteinander kommunizierten. Wenn ihm jemand "Grüß Gott" zurief, so war es doch klar, dass damit eine Aufforderung zu einem tiefsinnigen Gespräch über die Existenz Gottes und den Sinn des Daseins verbunden war. Kopfschüttelnd blickte er dem Nachbarn nach, der ihm "Grüß Gott" zugerufen hatte und dann einfach weitergegangen war. Wie gedankenlos!

Harald, der allein mit seinem Hund Tacitus lebte, vereinsamte mehr und mehr, denn niemand wagte es schließlich noch, das Wort an ihn zu richten. So musste Tacitus sich von morgens bis abends und manchmal auch nachts anhören, was Herrchen in seiner gründlichen Art zu sagen hatte. Doch der Hund verlor niemals die Geduld und seine treuherzigen Blicke gaben Harald in allen Dingen Recht.

Eines Tages klingelte es an Haralds Haustür. Er eilte nach draußen, da stand sein alter Schulfreund Kurt, der schon vor Jahrzehnten nach Amerika ausgewandert war. "Kurt!" rief Harald erfreut, denn er erkannte den Besucher sofort. Und dieser rief ebenfalls überschwänglich: "Harald, Menschenskind, wie geht es dir?" "Komm rein", lächelte Harald listig, "ich werde dir erzählen, wie es mir geht. Du hast doch ein bisschen Zeit mitgebracht?"

"Was heißt hier 'Zeit mitgebracht'?" erwiderte Kurt lachend. "Wie kann man Zeit transportieren? Das wäre ein tolles Geschäft! Damit könnte ich eine Menge Dollars machen!" Und während Harald seinen alten Freund in sein Haus lotste und in einen bequemen Sessel drückte, erzählte dieser ununterbrochen, dass er ein erfolgreicher Generalvertreter einer der größten Computerhersteller der Vereinigten Staaten sei und jetzt den deutschen Markt erschließen wolle, dass er ein Haus und ein großes Grundstück in Malibu besäße und..." Harald kam nicht zu Wort. Nach einigen vergeblichen Versuchen, in die Lücke einer Atempause Kurts einzudringen, ließ er sich resigniert in den gegenüberliegenden Sessel fallen, saß wie auf heißen Kohlen und wartete auf seine Chance. Die kam schließlich, als Kurt sich einmal verschluckte und husten musste. Haralds Einsatz sollte eine geschickte Überleitung zu seinem eigenen Monolog werden, doch seine Worte "Soso, du machst also in Computern..." erwiesen sich als Fehlgriff, denn sofort schnappte die Falle zu: "Computer!" rief Kurt, jetzt wieder bei Stimme. "Weißt du überhaupt, wie so ein Ding funktioniert? Ich seh schon. Keine Ahnung. Also, pass auf. Schon im Neolithikum finden sich Anzeichen digitaler Kommunikation. In den Höhlenmalereien..." Soweit holte Kurt aus und so gründlich ging es weiter über die Anfänge der Schrift, die griechischen Vorsokratiker, die Erfindung des Abakus, die Rechenlehren Adam Rieses bis zu den neuesten Errungenschaften der Datenverarbeitung, die er, unterfüttert mit detaillierten Informationen aus dem Bereich der Elektronik, pedantisch in allen Haupt- und Nebensächlichkeiten darzulegen wusste. In Haralds Nachbarschaft gingen die Lichter und Fernsehgeräte aus, da war Kurt gerade bei den diversen Programmiersprachen angelangt. Kurz: Es ging bis zum Morgengrauen, doch das Grauen hielt für Harald noch den ganzen nächsten Tag und länger an. Er kam und kam nicht zu Wort. Kurt verfolgte ihn in die Küche, wo er sich den wievielten Kaffee zubereitete, um wach zu bleiben, ja sogar durch die Toilettentür hindurch musste Harald sich fremdartige Wörter wie Pixel und Byte und Bit und Hyperlink anhören. Das heißt: Er verschaffte sich hinter der verschlossenen Klotür einen stillen Triumph, indem er sich ungesehen die Ohren zuhielt. Aber danach ging die Folter weiter. Gnadenlos.

    

Tage später vernahmen Haralds Nachbarn aus dessen Haus ein klägliches Winseln und Bellen. Das war Tacitus. Ein Beherzter ging hinein. Die Haustür war unverschlossen. Er fand den Hausherrn übernächtigt und apathisch in seinem Sessel. Tacitus, das Hündchen, saß zu seinen Füßen, schaute zu Harald hinauf, bellte ihn an, schubste ihn mit seiner Nase am Schienbein, knurrte, jaulte. Kein Wort, keine Reaktion. "Was ist los?" fragte der Nachbar. Doch Harald winkte nur ab und murmelte mit matter Stimme: "Ist doch nebensächlich."

   

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Wer schreibt, der bleibt

   

In einem Land, in dem das Recht auf Eigentum zu den höchsten Werten zählte, war ein Ladendieb, den man mit einem Buch über das Leben der Schmetterlinge erwischt hatte, zum Tode verurteilt worden. Er war geständig und seine Liebe zu Schmetterlingen wurde vom Gerichtspsychiater als Ausdruck frühkindlicher Fluchtfantasien, somit als mildernder Umstand, gewertet. Darum durfte der Verurteilte die Art seiner Hinrichtung selbst wählen. Sein spontaner Wunsch, wie ein zur Sammlung konservierter Falter in Spiritus ertränkt zu werden, wurde als regelwidrig abgelehnt. So entschied er sich mit wenig Begeisterung fürs Hängen.

Der Morgen der Exekution war gekommen. Der oberste Richter verlas vor den versammelten Zeugen noch einmal das Urteil. Den Scharfrichter vor Augen, der den Strick spielerisch durch seine Hände gleiten ließ, blieb der Delinquent, er hieß Robert, dennoch ruhig und gelassen. Und fest war seine Stimme, als er, nach seinem letzten Wunsch gefragt, sich erbat, die Hinrichtung so lange hinauszuschieben, bis er einen Abschiedsbrief an die Menschen zu Ende geschrieben habe. Diesem Wunsch musste der Oberste Richter entsprechen, denn in jenem Land wurde – eines der wenigen Relikte aus früheren Zeiten - der allerletzte Wille eines Menschen respektiert. "Humanitätduselei!", murmelte der Henker. Gleichwohl - man schaffte eilig einen Tisch und Schreibzeug herbei. Robert richtete den ersten Brief an seine Frau, den zweiten bis fünften an seine Kinder, den sechsten an seine Schwester, weitere an Vettern und Basen, fernere an Onkel und Tanten und Schwäger und weitläufige Verwandte, deren er sich entsann. Und immer wieder schrieb er nach der Anrede "Lieber oder Liebe Soundso" nur einen einzigen Satz, und wenn er dahinter den Schlusspunkt gesetzt hatte, beendete er ihn mit einem "lieben Gruß" und schnörkelte darunter: "Dein Robert". Und wer ihm über die Schultern sah, las kopfschüttelnd stets dieselben Worte, nämlich: "Schmetterlinge lieben die Freiheit". Der Psychiater tippte sich vielsagend an die Stirn. Ein Gerichtsdiener riss dem Verurteilten die noch tintenfeuchten Blätter aus der Hand und ein Bote brachte sie zur Post. Der Oberste Richter protestiere nach einigen Stunden, das gehe doch wohl zu weit. Roberts Anwalt erinnerte an den Wortlaut des letzten Wunsches seines Klienten, nicht hingerichtet zu werden, bevor er einen Brief an die Menschen – wohlgemerkt die Menschen – geschrieben habe. Und nun müsse man es wohl oder übel dem Ermessen des Unglücklichen überlassen, wen er mit seinem letzten Gruß bedenke und auf welche Weise er dies tue. Er zitierte mit Nachdruck den Paragraphen und einen Präzedenzfall als Beleg.

Vor Sonnenaufgang hatte der Delinquent hingerichtet werden sollen. Nach Sonnenuntergang war er immer noch mit dem Schreiben von Grußadressen an Menschen beschäftigt, deren er sich erinnerte, wie etwa verflossene Klassenkameraden oder Liebschaften. Bald musste man ihm Adressbücher herbeischaffen, denn Robert konnte unmöglich alle Anschriften im Kopf haben. Schließlich, als alle – außer Robert – schon der Erschöpfung nahe waren, brachte man ihn in seine Zelle zurück und setzte den Hinrichtungstermin für den nächsten Morgen an. "Vor Sonnenaufgang!" rief der Henker und schwang das Seil. Doch die Wärter, die in aller Frühe Robert aus seiner Zelle holen sollten, mussten mit leeren Händen umkehren, denn der Gefangene bestand mit Hilfe seines Anwalts unbeirrt auf Erfüllung seines letzten Wunsches. Er schrieb an Bürgermeister und Ratsherren der Stadt "liebe Grüße" und die unerhörte Botschaft von den freiheitsliebenden Schmetterlingen. Sein Schreibeifer machte auch nicht vor den höchsten Vertretern des Staates halt, weder vor Ministern noch Staatssekretären, ja nicht einmal vor dem diktatorischen Präsidenten des Landes, der sein Kabinett daraufhin zu einer Sondersitzung einberief. Der Verteidigungsminister ließ durchblicken, dass der Geheimdienst bereits dicht vor der Entschlüsselung der vermutlich chiffrierten Aufforderung zur Rebellion stehe, vom Außenminister kam hingegen der Vorschlag, den Fall der gesamten Weltpresse publik zu machen und als Beispiel für den liberalen Strafvollzug des Landes propagandistisch auszuschlachten, was vom Justizminister als "Schritt in die richtige Richtung" kommentiert wurde. Doch der Innenminister bat den Präsidenten, energisch durchzugreifen und ein Exempel gegen den grassierenden Ladendiebstahl zu statuieren.

Der Präsident entschied vorerst überhaupt nichts, sondern verfolgte teils besorgt, teils amüsiert das Treiben dieses Menschen. Die Auslandspresse hatte schon längst Wind bekommen von Roberts Bemühungen, seine Hinrichtung und damit sich selbst schreibend hinauszuzögern. Schließlich dauerte seine Aktion jetzt schon drei Monate und ein Ende war nicht abzusehen. Man hatte ihm in seiner Zelle alle technischen Möglichkeiten der Kommunikation zur Verfügung gestellt, ihm, der mittlerweile alle Einwohner des Landes in alphabetischer Reihenfolge mit seinem letzten Gruß bedachte und schließlich grenzübergreifend zu grüßen begann, ein Telefaxgerät und einen Computer gebracht und den Anschluss ans Internet installiert. Davon erhoffte man sich eine beschleunigte Erledigung seines letzten Wunsches und damit den längst fälligen Vollzug, "bevor das Ausland sich totlacht", wie der Außenminister meinte, was nach Ansicht des Kriegsministers gar keine so schlechte Sache wäre. Doch Robert enttäuschte alle Erwartungen, dass er irgendwann entnervt seine Schreiberei aufgeben würde.

Da Exekutionen in jenem Lande normalerweise in der Reihenfolge ihrer Verhängung vollzogen wurden, ergab sich durch Roberts Aktion ein gewaltiger Hinrichtungsstau. Alle, die nach ihm verurteilt wurden, mussten warten und so keimte in den Todeszellen erste Hoffnung auf. Die Verurteilten stellten Hochrechnungen mit der Durchschnittszeit an, die Robert pro Mensch aufwenden müsste, bis er jeden Erdenbürger mit Post bedacht haben würde. Sie würden auf diese Weise, kalkulierten sie, wohl noch alle ein biblisches Alter erreichen.

Robert, allmählich immer sorgloser geworden, begann mit der Abfassung seiner Brieftexte zu schludern. Er war gerade beim Buchstaben H auf den dänischen Färöerinseln angekommen, als er anfing, seine Sätze zu variieren. Aus dem Standardsatz "Schmetterlinge lieben die Freiheit", wurde zum Beispiel "Lieblinge freien die Schmetterer" oder "Freilinge schmettern die Lieblinge" oder "Freischmetterer lieben" oder auch nur "Liebe schmettert" oder "Freiheit für Schmetterlinge".

Letztere Variante jagte den Machthabern einen gehörigen Schreck ein. Der Präsident entließ diesmal sein verwirrtes Kabinett mit einer wegwischenden Handbewegung und einer verächtlichen Miene, hinter der er seine eigene Angst vor Rebellion und Sturz verbarg. Dann saß er lange allein im Konferenzraum und dachte nach. Sein Nachdenken gipfelte in der Erkenntnis: Wenn schon Revolution, dann mache ich die selbst - so wie ich bisher alles in meinem Staat allein entschieden habe. Und er handelte sofort. Zuerst begnadigte er Robert, bevor dieser alle Einwohner einer Großstadt in Kleinasien mit seiner Grußbotschaft erreichen konnte. Dann setzte er mit einem Federstrich per Gesetz die Todesstrafe außer Kraft, worauf sich sieben arbeitslos gewordene Henker fachgerecht aufknüpften. Dann ließ er die Gefängnisse per Amnestie von allen politischen Häftlingen (andere gab es nicht) leeren, enthob seine Minister ihres Amtes, löste das Parlament auf, das sowieso nur aus Jasagern bestand, besetzte die wichtigsten Behörden und Versorgungseinrichtungen mit politischen Gegnern und Experten, was zu einer völligen Leerung der Irrenhäuser und Arbeitslager führte, entließ sich zum Schluss selbst und ging ins Exil. Sein jetzt führungslos im Stich gelassenes Volk geriet für eine Weile in eine schwere Krise. Doch es gelang ihm schon nach hundert Jahren, eine stabile Demokratie zu errichten, in der unter anderen Rechten das Privileg der Schmetterlinge auf freien Flug im Grundgesetz verankert war. Robert soll ein ruhiges Leben mit gutem Auskommen und gesicherter Pension als Hausmeister im Insektarium des zoologischen Gartens der Hauptstadt geführt haben und bei bester Gesundheit steinalt geworden sein. Von ihm stammt angeblich auch das Sprichwort "Wer schreibt, der bleibt!"

   

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Endspiel auf La Palma

   

Im Café von Pablo Yanes hatten wir noch einen der letzten Stühle ergattert und blickten immer mal wieder zum Fernseher über der Bar. Das übliche Geplänkel vor einem wichtigen Fußballmatch, dann Reklame für Sonnenschutzcreme und Coca Cola. Endlich liefen die Spieler ein. Sie führten kleine Jungen im Fußballdress an der Hand, wie große Brüder oder liebe Papis. Ein freundliches Bild. Als die Hymnen verklungen waren, begann das wichtige Spiel, ein entscheidendes, wie man uns sagte, und jetzt rollte der Ball oder schoss von Fuß zu Fuß oder prallte gegen den Kopf eines der Bayern oder Spanier, die einen aus München in Rot, die anderen aus Valencia in Weiß: Farbe der Liebe gegen Farbe der Unschuld. Eigentlich, dachte ich, müssten die Spanier ein feuriges Stierkampfrot und die Bayern ein biederes Weißblau tragen. Aber unsere Klischeevorstellungen sind wohl auch nicht mehr das, was sie waren.

Wir, Pfingsttouristen aus Alemania, lehnten uns zurück, und verfolgten die ersten abtastenden Spielzüge aus entspannter Feriendistanz. La Palma, ein Winzling unter den kanarischen Inseln, nur ein Fliegendreck auf meinem Globus. Der Familienname Yanes scheint hier so häufig vorzukommen wie bei uns Müller oder Schmidt. Mit uns im Lokal noch einige deutsche Touristen, hauptsächlich aber Palmeros und ein paar eingewanderten Deutschpalmeros, die sich vor dem Spiel noch nicht darauf festlegen wollten, für wen sie zu zittern gedächten.

 

Für die Kellnerin Rosita ging das Geschäft seinen Gang – Endspiel hin oder her. Sie zückte einen Bestellblock und wartete. Ich entschied mich für Kaninchen in Knoblauchsoße, dazu Rotwein, und las meine Bestellung auf Spanisch von der Speisekarte ab. Rosita verbesserte mit freundlicher Strenge meine Aussprache: doppeltes L müsse sich anhören wie ein J. Das wollte ich mir merken.

 

Jetzt ging es los im fernen Mailand unter neutraler italienischer Sonne. Auf dem Monitor, den man zutreffender als Mattscheibe bezeichnen sollte, so milchig flimmerte das Bild, war ein Elfmeter fällig. Gegen die Deutschen. Angst bei wenigen, Hoffnung bei den meisten im Café. Der Ball war drin und die weißen Spanier hatten ihre Unschuld verloren. Mir als Gelegenheitsfußballfan war es ziemlich egal, doch einer der Palmeros tanzte wie ein Derwisch zum Tresen und umarmte einen steif dasitzenden Landsmann. Dem schien so viel Nähe nicht zu behagen, so schroff wie er sich aus der Umklammerung löste. Daraufhin kam der Lustige auf mich zu gedribbelt und wollte wetten. Um "una cerveza". Ich ließ mir von Sieglinde, unserer deutschen Pensionsherrin, übersetzen: "Ein Bier". Gut, ich schlug ein: Zwei zu eins für Deutschland! Da lachte der Palmero über drei Zahnlücken hinweg: "No! No! No! Nix Alemania gewinn!" Er stellte sich vor: "Juan Carlos. Wie König. Unser König nix Skandale. Verstehen? Wie heiß?" Wilhelm? Kaiser Wilhelm? Ich wehrte ab: Nein, nicht Wilhelm der Zweite, wenn schon, dann der Dritte. Und nur, wenn ich ihn König Juan nennen dürfe. Einverstanden.

Der Caballero auf dem Barhocker schaute böse zu uns herüber. Die Fraternisierung der beiden Herrscherhäuser gefiel ihm offenbar überhaupt nicht. Er zog verächtlich an seiner Zigarette, wandte sich der Mattscheibe zu und drohte mit der Faust einem deutschen Stürmer, der den Ball mit der Wade eines spanischen Liberos verwechselt hatte. Diese Freveltat war Anlaß für den Fan in der Barkurve, derart loszuschimpfen, dass sich Pablo Yanes, der Wirt, gezwungen sah, sein Töchterlein Marta in die Küche zu schicken. König Juan versuchte, den aufgebrachten Sportsfreund zu beruhigen, aber das brachte diesen nur noch mehr in Rage. Bald musste er, wie die anderen Einheimischen im Café, hilflos zusehen, wie die ausgleichende Gerechtigkeit der deutschen Mannschaft einen Strafstoß bescherte. Der Ball lag - ganz und gar kinetische Energie in Ruhe - auf dem magischen Elfmeterpunkt. Alle in Yanes’ Café hielten den Atem an, als ein beherzter roter Bayer Anlauf und Maß nahm. Von unserer rauchgeschwängerten kleinen Gaststube aus gingen jetzt spürbar hypnotische Ströme zum Ball, die meisten offenbar so beschwingend, dass das runde Ding tatsächlich in hohem Bogen übers spanische Tor flog. Pech für die Bajuwaren.

König Juan de la Palma verlor die Contenance, tanzte unköniglich ausgelassen durch die Gaststube, klopfte dem Caballero mit dem scharfen Profil eines Kriegerdenkmalhelden auf die Schulter, bekam von diesem einen Rempler mit dem Ellbogen ab und wich zurück. Er wechselte daraufhin spontan die Front und eilte auf mich zu. Verschaffte mir mit einer Serviette Kühlung und Trost, den ich ein kleines bisschen brauchte, denn so gleichgültig war mir das Spiel auf der Mattscheibe mittlerweile nicht mehr, vielleicht eine Trotzreaktion auf die leidenschaftliche Parteinahme der Palmeros. Juan kaufte mir ein Bier, obwohl doch ich wie der Wettverlierer aussah. Wir prosteten uns zu. Er verriet, dass er "Touriste in Berge fuhrt", da lerne er "gute Deutsche unde – äh – anderre."

Das Spiel ging weiter. Indes für den Caballero auf dem Barhocker war es ein Kampf, nicht bloß um einen Sieg oder um einen Pokal, nein, für ihn tobte ein Gefecht zwischen zwei feindlichen Armeen. Er hatte sich inzwischen offensichtlich zum General ernannt und den Barhocker zum Feldherrenhügel erklärt, von dem aus er die Schlacht leitete und sein Heer kommandierte.

In der Halbzeit versuchte König Juan noch einmal vorsichtig, den Generalissimo versöhnlicher zu stimmen. Ich verstand nur das Wort "Europa". Doch schon allein die Erwähnung dieses Wortes ließ den Zorn des Mannes höher schäumen als die Hopfenkrone auf seinem Bier. Niemals werde er, so wurde uns übersetzt, auch nur eine Pesete in die neue Währung umtauschen. Und überhaupt: Was scherten ihn die anderen Nationen! Es gehe um die Ehre Spaniens, gerade in diesem Spiel der Champions. Er – Juan – solle sich schämen, in dieser Stunde der Entscheidung mit einem Deutschen ... "Und so weiter", beendete Frau Sieglinde ihre Dolmetschertätigkeit resigniert. König Juan lachte verlegen und sagte etwas, was ich vom Tonfall her lautmalerisch als "Peinlich, peinlich!" deutete, und die anderen Insulaner im Cafe schüttelten die Köpfe. Der Caballero am Tresen sei gar kein echter Palmero, sondern einer vom spanischen Festland. Eigentlich Ausländer. Ach so!

Das Spiel - oder der Kampf - näherte sich seinem Ende. Man war sich einig auf La Palma: Das Schicksal der Bayern war besiegelt. Da stellte ein spanischer Verteidiger einem deutschen Stürmer just vor dem spanischen Tor ein Bein. "Provocación!" rief der auf dem Barhocker. Aber der Schiedsrichter hörte nicht auf ihn, sondern verhängte gegen Valencia einen Elfmeter. "Corrupción! Corrupción!" wütete der Fan und kippte bald von seinem Hochsitz, musste mit ansehen, wie der Bayernspieler Anlauf nahm, der spanische Torwart in die falsche Ecke sprang und ins Leere griff - Eins zu Eins! König Juan nickte traurig mit dem Kopf. Ich, Kaiser Wilhelm von Juans Gnaden, wedelte ihm nun seinerseits mit der Serviette Trost zu. Er hatte ihn bitter nötig, lächelte aber bald wieder und sagte: "Were bessere, das solle gewinne!" Der General schlug mit der Faust auf den Tresen und steigerte seine Wutausbrüche zu stakkatohaftem Schnellfeuerspanisch. Wirt und Wirtin tuschelten miteinander, ob sie den Ungast hinauswerfen sollten, ihr Teenagertöchterlein fiel ins Babyalter zurück und lutschte vor Schreck am Daumen, doch dann lief das Spiel in eine Phase langweiliger Bolzerei, was sich beruhigend auf alle Gemüter in Yanes’ Café übertrug. Selbst das Ungemüt am Tresen, nun völlig im Abseits, sog etwas friedlicher an seiner Zigarette, während das Fernsehen, bevor das Spiel in die Verlängerung ging, die Segnungen schnell wirkender und wohl auch ein wenig nebenwirkender Kopfwehtabletten pries. Ich nagte die letzten Fleischkrümel von undefinierbaren Kaninchenteilen, stippte die Knoblauchsoße mit Weißbrot auf und trank wie alle Anwesenden – außer dem General – den vom Wirt spendierten original palmesischen Kräuterlikör. "Tut gute", sagte Juan und Sieglinde ergänzte: "Zum Wohl!"

Die Verlängerung des Turniers geriet zu einem Wechselbad. Mal sahen wir und die anderen Cafégäste verheißungsvolle Spielzüge, dann wieder missglückte Pässe, klatschende Lattenschüsse, verlorene Bälle, je nach Partei bejubelt oder beklagt. Juan sprang auch mal über den eigenen nationalen Schatten und applaudierte einer bravourösen Leistung der Gegenseite. Der General indes verfolgte das Kampfgeschehen regungslos mit vorgerecktem Kinn und verbissener Miene. Ab und an blitzte sein Feuerzeug auf wie ein Flammenwerfer, er nebelte sich ein und hielt das vaterlandslose Pack in der Bar keines Blickes mehr würdig.

Dann kommt es zum finalen Elfmeterschießen. Hochspannung im Lokal. Fortuna spielt mit den Roten und den Weißen Katz und Maus. Mal flutscht oder donnert der Ball rein ins Tor, mal knallt er ran an den Pfosten, mal landet er knapp in der Hand eines Torwarts, mal ebenso knapp an ihm vorbei, und im Stadion zu Milano geht es drunter und drüber. Bis plötzlich ein spanischer Balltreter zum Unglücksraben und gleichzeitig der Hüter des deutschen Tores zum Helden wird, weil er einmal mehr als sein spanischer Keeperkollege genau dort hinspringt, wo der Ball eigentlich ins Ziel sollte. Aus für Valencia! Sieg für die Bayern!

Die Wiederholung zeigt den Treffer wieder und wieder! Die Deutschen, auch die Einwanderer, können sich nicht satt daran sehen, die Einheimischen schauen weg von diesem verhängnisvollen Bild. Spaniens Kicker lassen die Köpfe hängen, einer weint. Die Bayern liegen sich in den Armen. Andere drücken ihre Freude mit irrwitzigen Verrenkungen aus. In Yanes’ Bar sind die Einheimischen ganz still geworden, während die Touristen und jetzt auch die Einwanderer aus Alemania ausgelassen und unerschrocken jubeln – in Yanes’ Café, in der Höhle des Löwen.

König Juans Kinn ist tief gesunken. Einen Augenblick lang schaut er beinah ungnädig in die Runde. Dann fängt er sich, reckt den Kopf, lächelt mühsam, erhebt sich von seinem Stuhl, schreitet majestätisch von Tisch zu Tisch, von einem zum anderen Deutschen, auch zu den zugezogenen, schüttelt jedem die Hand: "Felicitación! Gluckewunsche! Alemania grosse Glucke. Valencia grosse – wie sage? Egal. Schöne Spiel!" Ich drücke ihm die Hand, hätte bald "Mein Beileid" gesagt, bestelle ihm "Una cerveza!" Dann schaue ich hinüber zum Tresen, so wie die meisten im Café. Frau Sieglinde zwinkert uns zu. Was wird der General jetzt tun? Zunächst tut er gar nichts. Hält sich an seinem Bierglas fest und starrt auf den Bildschirm. Sekundenlang. Sieglinde flüstert: "Er kann’s nicht glauben." Dann geht ein Ruck durch seinen Körper, er steigt steif vom Hocker, stößt diesen dabei um, drückt seine Zigarette aus, wirft ein Bündel Pesetenscheine auf die Theke und marschiert erhobenen Hauptes hinaus in die Nacht.

   

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