René de Obaldia

   

Auszüge aus Les richesses naturelles

  

   

   

   

Wachstum

 

Als man um den ersten Milchzahn des Kindes einen Faden band, um den Zahn auszureißen, lag im Nachbarort ein Mann im Sterben.

Als man kräftig an dem Faden riß, starb der Mann. Das Kind rannte schluchzend in ein dunkles Zimmer und schloß sich ein.

Als es die Tür wieder öffnete, trat ein Mann heraus.

 

Croissance

   

   

   

Salzkorn

 

Bei einem Ball gelang es einem Mädchen, ein Salzkorn auf den Schwalbenschwanz seines Kavaliers zu streuen.

Dieser verwandelte sich sofort in einen Vogel.

– Kiwitt-kiwitt, sagte er zu dem Mädchen und ließ dabei eine kleine gelbe Kotkugel fallen, kiwitt-kiwitt, ich sag's dem Papst!

Und er flog durch ein Ochsenauge hinaus und davon.

 

Grain de sel

   

   

   

Die Blutlache

 

Die Blutlache, ganz jung, breitet sich auf den Pflastersteinen aus. Sie redet mit sich selbst.

Die Häuser geben keinerlei Lebenszeichen von sich. Das Haus gegenüber hat seine Läden geschlossen.

Die Lache beflaggten Blutes. Sie durchlöchert den Schlaf, gefällt sich in ihrer Farbe.

Welche Wüste um sie her! Nichts. Niemand. Die Blutlache gleicht einem Kardinal, der es müde ist, den Himmel in seinem Purpur abzuwarten. Ein auf dem Pflaster ausgestreckter Kardinal, zusammengekauert im Feuer seiner Liebe.

Dieser pfeifende Zug trägt Passagiere mit bleichen Händen fort. Eine Möwe fällt aus Einsamkeit vom Himmel.

Die Blutlache ist mittlerweile ein paar Stunden alt. Sie altert. Sie tritt in die Geschichte ein... Glühende Hitze. Die Sonne rechtfertigt sich in ihrem blinden Licht... Die Tür des Hauses gegenüber öffnet sich langsam... Ist es der Leichnam, der an den Tatort zurückkehrt? Oder der Mörder? Oder beide, mit sämtlichen Fasern aneinandergebunden?

Aus der halbgeöffneten Tür kommt ein Aufziehhuhn heraus... Eine Hand hat es soeben aufgezogen... Auf seinen metallenen Füßen schafft es das Tier bis zur Mitte der Lache. Mechanisches Huhn, das mit einem trockenen Geräusch nach dem Blut pickt: klick! klick! klick!

Und die Bewohner der Stadt stopfen sich die Ohren zu.

 

La flaque de sang

   

   

   

Die Frauen meines Knies

 

Die Frauen meines Knies gleichen sich am Abend, wenn die Gedanken hereinbrechen. Mit fleischlichen Feuern geschmückt, aufmerksam und geheim.

Die Frauen meines Knies lieben sich wegen der Liebe meines Knies.

Kein Streit, kein Geräusch: die Frauen meines Knies entkleiden die Stille.

Glücklicher Mann der ich bin, strecke ich mich auf meinem Bett einige Jahrhunderte aus. Ich habe meinen Namen, meine Grammatik, mein Scheckbuch verloren... Nicht einmal mein Atmen nimmt sich mehr ernst.

Ich bade genußvoll im Königreich Genusien*.

 

Les femmes de mon genou

 

* Frz. genou = Knie, das Königreich Genousie leitet sich davon ab, spielt jedoch vermutlich auch auf das gleichnamige Theaterstück de Obaldias von 1960 an, dessen dt. Übersetzung den Titel Genusien trägt.

   

 

Aus: René de Obaldia Les richesses naturelles. Récits-éclairs, Editions Bernhard Grasset, Paris 1970. Erstveröffentlichung 1952 bei Editions René Julliard. Aus dem Französischen übersetzt von Johannes Beilharz im August 2001.

 

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