Quickshot - Schnellschuß vom
18.08.2001 Quickshot-Index
Fernando Sorrentino im Gespräch mit Sáez & Rimondino
"Wenn ich schreibe, dann tue ich immer etwas, was mir Spaß macht"
Fernando Sorrentino wurde 1942 in Buenos Aires geboren. Er ist Verfasser
ebenso einzigartiger wie wenig verbreiteter erzählender Werke. Jenseits aller
literarischen Modeerscheinungen hat er Streifzüge in die Gebiete der Satire und
des Grotesken unternommen und dabei Personen porträtiert, die man nicht so
leicht vergisst. Er veröffentlichte mehrere Erzählsammlungen, den
bemerkenswerten Roman Sanitarios centenarios sowie verschiedene
Jugendbücher und betätigte sich als Herausgeber von Anthologien. Soeben legte
El Ateneo seine beiden Interviewbände neu auf: Siete conversaciones con
Jorge Luis Borges und Siete conversaciones con Adolfo Bioy Casares.
In welcher Rolle fühlst du dich am wohlsten – als Autor eigener
Erzählungen, als Herausgeber von Anthologien oder als Interviewer wie im Falle
von Borges und Bioy Casares?
Am wenigsten interessieren mich die Anthologien. Die erste kam zustande, weil
es mir Spaß machte, sie zusammenzustellen. Sie bestand aus fünfunddreißig
Kurzgeschichten. Die anderen entstanden aus rein kommerziellen Gründen. Da die
erste Erfolg hatte, drängte mich der Verlag, eine weitere zu machen. Dabei
handelt es sich weniger um eine schriftstellerische als eine
literaturwissenschaftliche Aufgabe, der ich für mich eine ziemlich
untergeordnete Bedeutung beimesse. Was mich wirklich am meisten interessiert,
ist mein erzählerisches Werk, und darunter interessieren mich meine
Erzählungen für Erwachsene mehr als die für Kinder. Das Schicksal scheint es
in den letzten Jahren so zu wollen, dass ich mehr Jugendbücher publiziere als
Bücher für Erwachsene. Es hat sich einfach so ergeben. Im Sommer kann ich in
drei Wochen ein Jugendbuch schreiben und fest damit rechnen, dass es
veröffentlicht wird. Das ist Anreiz genug, es zu tun. In Wahrheit ist mir
jedoch mein Werk für Erwachsene wichtiger.
Was die beiden Bücher mit Gesprächen anbelangt, so haben sie mir sehr viel
Freude gemacht. Vor allem das erste. Ich wandte mich an Borges, weil er mich
interessierte. Ich war damals sehr jung und voller Begeisterung; das hat sich
inzwischen ein bisschen gelegt. Die Anziehungskraft, die Borges auf mich
ausübte, war außerordentlich stark. Das Buch mit den Bioy Casares-Interviews
ist etwas anders. Bioy Casares hatte mir nicht so viele Lebensjahre voraus wie
Borges. Wir hatten eine andere Beziehung zueinander. Bioy und ich duzten uns,
etwas, das bei Borges undenkbar gewesen wäre. Ich weiß nicht, inwieweit mich
Borges als Person wahrnahm; er kannte ja nur meine Stimme. Jedenfalls hatte er
ein sehr gutes Gedächtnis; er erinnerte sich an Dinge, über die wir zuvor
geredet hatten. Er mag zwar seine schlechteren Seiten gehabt haben, von einem
Dummkopf hatte er jedoch absolut nichts.
Wozu dienen diese Bücher mit Interviews?
Nach ihrem Zweck habe ich mich nie gefragt. Mein Beweggrund für die
Gespräche mit Borges war persönliche Neugier. Ich bin schon immer ein
aufmerksamer Leser gewesen und fragte mich manchmal, was wohl passieren würde,
wenn ich ihm Fragen zu etwas von ihm Geschriebenen stellen könnte. Bei diesem
Buch dachte ich an keinen potenziellen Leser, sondern an mich selbst. Ich
stellte ihm die Fragen, die mich interessierten. Obwohl ich die Fragen geplant
hatte, beantwortete er dann in Wirklichkeit nur die erste Frage, da die Antwort,
die er mir gab, mich zu einer zweiten Frage veranlasste, die nicht die
eigentlich geplante Frage war. In einigen Fällen nahm das Interview ganz
unerwartete Wendungen. Etwas, das Borges auszeichnete, war seine Fähigkeit,
Gedankengänge aus dem Stegreif zu entwickeln, sich spontan und kreativ zu
äußern. Einerseits gefiel mir diese Eigenart, andererseits lenkte sie das
Gespräch in unbeabsichtigte Richtungen.
War es schwierig, Borges zu interviewen?
Ganz einfach. Ich konnte ihm die dümmste Frage der Welt stellen, und ihm
gelang es stets, mit einer Antwort aufzuwarten, die nicht nur nicht dumm war,
sondern intelligent und überraschend. Wie sich aus dem Buch ersehen lässt,
gestattete es mir die Unverschämtheit meiner damaligen achtundzwanzig Jahre,
ihm dann und wann zu widersprechen. Um ihn zu reizen, um festzustellen, wie er
reagieren würde. Er zog sich ausnahmslos glänzend aus der Affäre.
Bioy Casares war ein ganz anderer Mensch. Sehr charmant, natürlich,
liebenswürdig...
Borges war auf eine bestimmte Art und Weise vom Alltagsleben entfernt. Bioy
dagegen war ein Mensch, der mitten im Leben stand. "Mit viel
Straßenerfahrung", würden die Jungen sagen. Das Gespräch war ganz
anders, manchmal viel weniger literarisch, und Bioy bat mich manchmal darum, den
Kassettenrecorder auszuschalten, um mir einige von seinen Liebesabenteuern zu
erzählen, Dinge, von denen er nicht wollte, dass ich sie aufzeichnete. Ohne ihm
irgendwelche Verdienste absprechen zu wollen, interessierte Bioy mich als
literarische Persönlichkeit weit weniger als Borges.
Glaubst du, dass Bioy ein großer Schriftsteller ist oder die Stelle des
"alten Weisen" übernahm, die zuvor Borges innehatte und die jetzt Sábato
einnimmt, vielleicht weil er gerade das richtige Alter hat?
Es schien mir zu keiner Zeit so, als ob
Sábato auch nur die geringste
literarische Bedeutung hätte. Er ist jemand, der sich eine Art von Bühne
geschaffen, sich selbst zur letzten Instanz in Bezug auf den gequälten
Nächsten erklärt hat, während er sich in Wirklichkeit nur mit sich selbst
beschäftigt und sonst gar nichts.
Dieses Image hat er verkauft und hatte
damit Erfolg bei diesen Studienanfängern an den Universitäten, die ihn
"Meister" titulieren, weil sie davon überzeugt sind, dass Sábato eine
Art Prophet und stellvertretend für uns alle ist. Was Bioy betrifft, so bin ich
der Meinung, dass er fünf Erzählungen geschrieben hat, die perfekt sind. Von
seinen Romanen hat mir nur Dormir al sol gefallen. Diesen Roman las ich
mit Leichtigkeit; er bereitete mir großes Vergnügen, und nach Abschluss der
Lektüre war ich glücklich. Sein berühmter Roman La invención de Morel
schien mir ein trockenes, schwer zu lesendes Buch, dem es an Vitalität fehlte. Plan
de evasión ist noch schlechter, sozusagen eine schlechtere Variante von La
invención de Morel. El sueño de los héroes ist ein Wälzer mit
völlig unnatürlichen Dialogen, doch versuchte ich, dieses Buch zu mögen, da
ich von Borges beeinflusst war, der sagte, es hätte ihm gefallen. Ich denke
jedoch, dass Borges diesen Roman nicht wirklich gelesen hatte. Von Bioy gibt es
aber Sachen, die wunderbar sind. "Encrucijada", "El calamar opta
por su tinta", "Memoria de Paulina" und ein paar anderen
Erzählungen würde ich zehn Punkte geben. Aber er ist ein Autor
unterschiedlicher Qualität.
Welche – außer diesen beiden – sind deine literarischen Väter in
Argentinien?
Zwischen Borges und uns allen, die wir nach ihm kamen,
liegen Welten. Von ihm abgesehen – ich sehe ihn als absolutes
Vorbild –, sind Cortázar und Denevi für die argentinische Literatur sehr
bedeutend. Denevi ist anscheinend, vielleicht aus politischen Gründen, etwas in
Vergessenheit geraten. Das Interessante an Denevi ist jedoch nicht die Kolumne,
die er eine Zeit lang für die Tageszeitung La Nación schrieb – ein
Nebenprodukt –, sondern die Tatsache, dass niemand sonst im 19. und 20.
Jahrhundert einen Roman schrieb, der an Rosaura a las diez heranreicht.
Ich halte dieses Werk für den bedeutendsten Roman Argentiniens aller Zeiten.
Obwohl es damit meiner Meinung nach erst an zweiter Stelle steht, und zwar ganz
einfach deshalb, weil auch Martín Fierro eigentlich ein Roman ist –
und ein noch besserer.
Meinst du, dass Martín Fierro das repräsentative Buch der Argentinier ist?
Ob es uns repräsentiert oder nicht, dessen bin ich mir nicht sicher. Es ist
jedoch ein ganz außerordentliches literarisches Werk. Es hat genau das, wodurch
sich auch Borges auszeichnet. Ich kann ihn immer wieder lesen und entdecke
ständig Nuancen, Feinheiten, Dinge, die mir zuvor nicht aufgefallen sind, neue
Nachklänge. Es gibt Schriftsteller, die bereits bei der ersten Lektüre
erschöpft sind. Man liest sie einmal und wird sie nie wieder lesen. Die noch
schlimmeren vergisst man bereits während der Lektüre; am Ende angelangt, kann
man sich schon nicht mehr an das Gelesene erinnern. Und bei anderen kommt man
nicht einmal über die ersten paar Absätze hinaus.
Fehlt es in der Welt der Literatur nicht ein bisschen an einer Debatte? Ist
es nicht so, dass wir bei der Glorifizierung ihrer großen Gestalten verweilen,
ohne wirklich in die Tiefe zu gehen?
Es gibt keine Debatte, weil die Debatte einseitig und einstimmig ist. Für
mich ist es schon ein Ausnahmefall, dass ich mich hier äußern kann, weil ich
es nicht geschafft habe, in die selbsternannten und geschlossenen progressiven
Kreise aufgenommen zu werden, die eine Art Mafia darstellen. Es gibt keine
Polemik, da sie alle gezwungen sind, dasselbe zu sagen.
Was uns mit Besorgnis erfüllt ist diese Mittelmäßigkeit des Nichts, vor
allem bei den jungen Erzählern, die heute niemand liest. Da gibt es keine
Geschichten, sondern mehr Literaturtheorie als Literatur. Im Gegensatz dazu
behandelst du häufig Absurdes – Dinge, die vielleicht gerade aus der Mode
sind und dafür gesorgt haben, dass du ins Abseits geraten bist.
Für mich wäre es ein Ding der Unmöglichkeit, soziale Protestliteratur zu
schreiben. Diese Art von Literatur interessiert mich nicht, und sie würde mir
auch nicht gelingen. Bei manchen meiner Erzählungen sind vielleicht
unterschiedliche Lesearten möglich, doch wäre es mir völlig unmöglich, den
Tagesablauf eines Arbeiters in einer Gefrierfleischfabrik zu schildern. Das
würde mich – und den Leser – zu Tode langweilen. Die wenige Zeit, die
ich habe, möchte ich dazu nutzen, etwas zu schreiben, was mir selbst gefällt.
Was schreibst du gerade?
Ich bin kein systematischer Schriftsteller. Ich schreibe weiterhin
Erzählungen. Wenn ich eine ausreichende Seitenzahl zusammenhabe, suche ich mir
einen Verlag. Manchmal finde ich einen, manchmal nicht. Ich habe einen Band mit
Erzählungen, für den ich noch keinen Verleger gefunden habe. Vielleicht sollte
ich jedoch – als mildernden Umstand – hinzufügen, dass ich nicht viel
schreibe. Im Augenblick mache ich mit Erzählungen weiter. Ich glaube nicht,
dass ich jemals wieder einen Roman schreiben können werde. Wenn ich erst einmal
eine Idee habe, was ich schreiben möchte, dann fällt mir das Schreiben selbst
relativ leicht. Es scheint mir nie ein Thema einzufallen, das sich für einen
Roman eignen würde. Ich neige dazu, mir Situationen einfallen zu lassen, die
einen Anfang und ein Ende haben, und daraus werden dann maximal dreißig oder
vierzig Seiten.
Du zeichnest dich durch große schöpferische Freiheit aus...
Das war bei mir schon immer ein ganz klarer Fall. Ich verbringe einen
Großteil meiner Zeit damit, zu arbeiten, damit ich überleben kann. In meiner
Freizeit – der Zeit, in der ich schreiben kann – möchte ich nicht auch noch
arbeiten. Wenn ich also schreibe, dann tue ich immer etwas, was mir Spaß
macht. Beim Schreiben bin ich keinerlei Zwang – durch nichts und niemand –
unterworfen, und ich schreibe niemals, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.
Dieses Interview erschien
ursprünglich in der argentinischen Zeitschrift LEA, II, 15, Juli
2001. Übersetzung aus dem Spanischen von Johannes Beilharz. Biografisches und
Links zu Fernando Sorrentino
Deutsche Übersetzungen von in
diesem Interview erwähnten Werken
Adolfo Bioy Casares
Morels Erfindung. Roman. Deutsch von Karl August Horst, Nymphenburger
1965.
Schlaf in der Sonne. Roman. Deutsch von Joachim A. Frank, Suhrkamp 1976.
Fluchtplan. Roman. Deutsch von Joachim A. Frank, Suhrkamp 1977.
Der Traum der Helden. Roman. Deutsch von Joachim A. Frank, Suhrkamp 1977.
Marco Denevi
Rosaura kam um zehn. Roman. Deutsch von Curt Meyer-Clason, Kiepenheuer
& Witsch 1961.
José Hernández
Martín Fierro. Deutsch von Adolf Borstendoerfer, Buenos Aires:
Editorial Cosmopolita 1945. Auszug in Bebendes Herz der Pampa.
Gaucho-Dichtung. Übersetzt und herausgegeben von Albert Theile. Zürich:
Arche 1959.