Rudolf Stirn

Spiegeleier und Liquor

Der Archivar Blindwurz tappte noch vor Mittemacht zu seiner Vorstadtwohnung zurück, wappnete sich vor der Haustüre, indem er sich bekreuzigte, und rührte dann den Türklopfer, weil er vergessen hatte, dass er allein lebte, seit er sein Heim-Archiv in städtische Nutzung hatte überführen müssen.

Liebevoll streichelte er die Türklopfer-Fratze, die ihm in diesem Moment in dürrer Welt als einziges Phantasiehupferl erschien. Da niemand öffnete, erinnerte er sich, wer er war und zog seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche, um sich einzulassen.

Drinnen roch es hochprozentig reptilisch nach Vorstadtelend. An den Wänden sah es aus wie im ärgsten Wende-Dresden. Blindwurz tappte im Dunkeln zur Küche und riss eine Pfanne aus dem Schrank. Er schlug drei Eier auf, quirlte sie mit letzter Kraft und ließ das Ergebnis ins spritzende Fett plumpsen. Dann setzte er sich energielos auf den einzigen Küchenstuhl, der seinen Leib noch trug, ohne mit Einsturz zu drohen. Denn Blindwurz war dick geworden.

An der Wand hing ein Porträt des Obermoglers, der seit fast zwei Jahrzehnten die Regierungsgeschäfte betrieb. Auch dieser war dick, und Blindwurz war es recht, dass ein dicker Mann das Sagen hatte, da er ein Freund einfacher Symbolik war. Kurz vor dem Anbrennen erinnerte er sich der Eier und kratzte, was aus ihnen geworden war, auf einen Teller, der immer auf dem Tisch bereitstand. Es war sein einziger, und er leckte ihn nach dem Essen stets so sauber, dass ein Kater neidisch geworden wäre. Auf diese Weise sparte er Wasser und verhielt sich ökologisch fortschrittlich.

Um sich zu stärken, holte er eine kleine Flasche Liquor aus dem Tresor im Hinterzimmer. Dieses hatte er ringsum blau gestrichen und bei jedem Eintreten verlieh er ihm andachtslüstern von neuem und ohne es bis jetzt je einmal unterlasen zu haben, das Adelsprädikat 'O du mein liebes Atlantis!'

Stets, wenn er die knarrende Schwelle überhüpfte - denn das Knarren auszulösen, brachte, wie er ausprobiert hatte, regelmäßig Unglück – flüsterte er die ihm heiligen Worte

In diesem seinem blauen Atlantis stand sonst nur noch ein schäbiger runder Tisch. Über ihm hing, von einem Deckenhaken herab, eine Infusionsflasche, die eine goldfarbene Flüssigkeit enthielt. Weiter beherbergte der Raum kein Mobiliar, denn Blindwurz hielt sich nur zu ausgesuchten Stunden darin auf.

Jetzt durchquerte er ihn rasch und kehrte mit dem Liquorfläschchen wieder in die Küche zurück. Dort goss er drei Tropfen auf einen Teelöffel und flößte sie sich vorsichtig ein. „Nichts verschütten, pass auf, Blindwurz!" dröhnte es in seinem Kopf.

Als aber einige Minuten vergangen waren, verklärte sich seine Miene. 'Ich bin da, ich bin da' sagte der Liquor in ihm, und der vom Staub ausgetrocknete Archivar fühlte sich innerlich neu angefeuchtet, um nicht zu sagen taufrisch. Vor seinen Augen verwandelte sich seine Welt. Er trat mit sicherem Schritt in den Korridor hinaus, der sich nun bis in weite Fernen zu dehnen begann. Stimmen und Düfte wehten ihm entgegen, das Licht nahm eine magische Qualität an und entfaltete eine mächtige Blendwirkung. Im Nu wichen die Wände links und rechts zur Seite und öffneten sich zu einem prächtigen Saal, der mit geheimnisvollen Gewächsen erfüllt war, die aus dem Boden emporgewachsen schienen. „Wo sind heute meine Zypressen?" rief der Archivar aus, der sich in einen prachtvoll geblümten Schlafrock gehüllt sah, über den seine Finger liebevoll hinstreiften.

„Wo sind heute meine Zypressen?" hallte es tausendfach von den Wänden, so dass sich Blindwurz ein wenig fürchtete und den Schlafrock fester um sich zog. „Schweigt, ihr Papageiengeschmeiß! Versaut mir nicht meine Halluzination. Ich will ja gar nichts, was euch beleidigen könnte, ihr dunklen Gönner!"

„Du hast den goldnen Tropf entwendet", schrie es, und es waren tausend verschiedene Stimmen, die sich in diesem bösen Vorwurf vereinigt hatten.

„Verräter, Verräter!" kickerte und neckte es aus dem Gewirr der Gewächse hervor. „Gib ihn zurück! Gib ihn zurück!" „Gebt Ruhe, Plaggeister!" stieß Blindwurz hervor und stampfte mit dem Fuß auf. Er rang die Hände und schrie:

„Ich habe ihn gerettet, ihr wisst es! Mir gehört er, und ich allein verdiene es, seine Segnungen zu genießen. Oder soll ich den Backpfeifern den kostbaren Liquor ausschenken? Mein atlantisches Gold in ihren gierigen Kehlen versickern lassen?"

„Buh! Buh!" schrie es, und Blindwurz sah sich wieder im tobenden Saal der Bürgerversammlung zur Hintertür fliehen. Dann klang es plötzlich wie „Nur zu! Nur zu!". Es lachte rund um ihn aus tausend Kehlen auf, und die Düfte verwandelten sich. Auf einmal roch es nach ordinärem Pommesfrittes-Fett und Bierpfützen.

„Scheußlich, wie solche Höhenflüge abstürzen können", stöhnte der Halluzinator und rettete sich in die Küche zurück. Dort saß er zusammengesunken am Tisch und ließ die Zunge auf den Teller hängen.

 

Dies ist Kapitel 3 aus Rudolf Stirns Erzählung Der goldne Tropf, erschienen 2001 beim Alkyon Verlag, Weissach i.T.

 

 

 

 

 

Text auf der hinteren Umschlagseite

 

Während in Backpfeif der Archivar Blindwurz im Stadtarchiv sein Unwesen treibt, gehen in der vom großen Stadtbrand gezeichneten Stadt merkwürdige Dinge vor. Ein Rezitator findet ein Manifest. Bankdirektor Vollbreit erliegt einem Telefon-Attentat. Steckt hinter allem die Öko-Mafia? Und wird Konnektor Maulpanns Tochter Brenna den Referendar Wandelbusch am Ende kriegen?

 

 

 

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