Hommage an Rudolf Stirn

Michael Blümel
Oliver Gassner
Johannes Beilharz
Jutta Weber-Bock

Zum Tod von Rudolf Stirn | Kurzbiografie und Veröffentlichungen

   
Rudolf Stirns Papierwelt
Rudolf Stirns Papierland / Grafik von Michael Blümel
   

Michael Blümel

der verleger 
(in memoriam rudolf stirn, 1938 - 2004)

weder geschäftigkeit noch menschliche härte waren
   dein lebenselixier
entflammte mit der philanthropie & liebe
  zum geschriebenen wort
hattest du ein inniges verhältnis

wer dich verstand
lebte sparsam
   auf einsamen inseln
oder nahe reißender flüsse
deren uferböschungen
   steilauf gingen
wenige mit dir

nun hören dir viele zu
   während du ihnen vorliest
unterbricht dich mitunter ein kalter hauch


   

Oliver Gassner

die sichtbaren dinge, no. 7

                  für rudolf stirn

ich sitze im cafe
warte
und weiß nicht
worauf

dass der cafe kommt
den ich bestellt habe
dass man meine bestellung aufnimmt

dass die sonne
durch die wolken
bricht
dass eine flutwelle
das dorf durchs tal spült

dass mir ein gedicht einfällt
dass mein kopf
ganz ganz
leer wird

Anmerkung des Autors:
Das folgende Gedicht nimmt in einem der Bilder einen Traum von Rudolf auf, den er uns an einem Sonntagmorgen bei einer der Zusammenkünfte in Wildberg erzählte: Dass er geträumt habe, das Tal sei überflutet und wir Autoren säßen hier fest.
Ich hab das Gedicht bei den Neckar-Enz-Autoren mal gelesen, da war Rudolf aber verhindert. Er dürfte den Text nie gehört haben.


   

Johannes Beilharz

Geschenke

»Liebes Kind, was hast du denn da für schöne neue Ohren!«
»Großmama, das sind keine neuen Ohren.«

»Liebes Kind, was hast du denn da für einen schönen neuen Mund!«
»Großmama, das ist kein neuer Mund.«

»Liebes Kind, was hast du denn da für schöne neue Augen!«
»Großmama, das sind keine neuen Augen.«

Aus drei Tiefen kamen sie: Ohren, Mund und Augen.
Aus drei Tiefen, die spuckten.

Mit drei Winden kamen sie: Ohren, Mund und Augen.
Mit drei staubigen Winden.

Mit drei Meeren kamen sie: Ohren, Mund und Augen.
Mit drei leeren Meeren.

Anmerkung des Autors:
Dieses Gedicht schrieb ich, angeregt von »Geschenke«, der ultrakurzen ersten Geschichte in Rudolf Stirns Ein Telefongespräch mit Mapulski, am 23. März 2004. Er hatte die Geschichte bei unserer gemeinsamen Lesung in Stuttgart-Ost am 22. März 2004 ganz zum Schluss vorgelesen. Ich schickte ihm das Gedicht per E-Mail. Später sprachen wir am Telefon darüber – ich beschrieb es als eine Mischung aus Brüder Grimm und dem spanischen Volksgedicht »Llego con tres heridas«. In Rudolfs Geschichte bekommt ein Kind neue Ohren, ein neues Gesicht und einen neuen Mund.


   


Rudolf Stirn liest, Kurt Holzkämper begleitet am Bass

Jutta Weber-Bock

Einleitende Worte zur Lesung von Rudolf Stirn, »Der Schattenzirkus ruft«, 23. November 2003 bei den Stuttgarter Buchwochen

In der Antike waren Erkenntnis- und Vorstellungswelt ununterscheidbar. Homers Ilias galt den Griechen als wissenschaftliche Geschichte ebenso wie den Römern die Werke des Tacitus, der munter Legenden und Fakten durcheinander mischte. »Es sind nicht die Dinge selbst, die uns ein Leben lang umtreiben, sondern es sind die Vorstellungen, die wir uns von den Dingen machen«, sagt Montaigne in den Essais.
Wenn »Der Schattenzirkus ruft« und es heißt: »Der Garten träumt, sagte er. Der Schattenzirkus ist da. ... Sei leise, sagte ich beschwörend, die Wände der Häuser sind aus Papier«, dann scheint es mir eben genau um diese Vorstellungen zu gehen, die wir uns von den Dingen machen. Und es scheint auch ein Stück weit der »eine Ton« zu sein, der Rudolf Stirn in seinen Geschichten immer wieder umtreibt.
Geboren in Stuttgart, seit vielen Jahren in Weissach im Tal lebend. Studium der Germanistik und der Klassischen Philologie, der Politologie, Soziologie und Volkswirtschaft, gibt sein Lebenslauf preis und zeigt damit gleichzeitig den Horizont auf, vor dem seine zahlreichen Romane, Erzählungen und Theaterstücke sich entfalten. Schon die Titel seiner Bücher verraten auch etwas von der Art seines Erzählens, so z.B. »Der goldne Tropf — Erzählung aus Backpfeif«, »Der Inselkönig — Fantasiestück in Callots Manier« oder »Mörike, der Kanzler, Kleiner und Ich — Capriccio« — stets ein ironisch-liebevoller Blick auf die Absurditäten von Alltag und Politik, auf einen (vorläufigen) Höhepunkt getrieben in »Der Schattenzirkus ruft«, ein Roman in Miniaturen, der in aller Kürze ein Panoptikum an Figuren heraufbeschwört, ein Ich-Erzähler mit seiner Frau Elsa, Carlo und seine Frau Julia, aber sind es wirklich zwei verschiedene Ehepaare in dieser seltsamen Wohngemeinschaft? Und die Zirkusleute, der große Pupo mit seinen Muskeln, Othello, der Dompteur, Carambolo, der Narr und Giselle, die Tänzerin — oder ist sie Blumenverkäuferin? Sie alle sind Zirkus-Darsteller und Alltags-Menschen zugleich. Wirklichkeit und Vorstellung sind untrennbar miteinander verknüpft und lassen sich nicht fein logisch trennen mit dem Seziermesser. Einige Beispiele, zufällig aus dem Schattenzirkus herausgenommen, zeigen dies: »Clorinde (eine Nachbarin) bestürmte mich. Sie trug einen Schwung abgenommener Untermieter über dem Arm, frisch von der Leine.« — »Die Hacke, mit der ich meinen Zorn klein machte, lehnte an der Mauer. Daneben der Pfarrer. Er hatte begonnen die Namen aus meinen Kleidern zu schneiden.« — »In meiner Brust wurde eine Fabrik stillgelegt, die Arbeiter waren ohne Hoffnung.« Aktuelle Gegenwart und geschichtliche Ereignisse waren in allen Zeiten nicht so weit voneinander entfernt. Die Unordnung der Welt lässt uns niemals los. — »Wenn Elsa vor den großen Schrank trat, geriet sie oft in Wut. In allen Taschen Gedichte, schrie sie. Sie bleute den Anzug, zerrte an den Nähten, den Laschen und fetzte das Futter entzwei. Entsetzen fuhr in das Bügeleisen, die Hosen fingen zu zittern und beten an.« — »Meinen Schatten essend, den von Jahren, den auf mich zuschnellenden Rausch der Erinnerung, ich folgte ihm, vorbei an den rebensatten Hängen, knapp über dem Abgrund.«
»Frage deine Wirklichkeit nicht: "Warum", frage deine Träume: "Warum nicht?"« sagt George Bernard Shaw.
Der Schattenzirkus ruft. Und wer weiß schon, welche Wirklichkeit in den Traumzelten steckt. Der Schattenzirkus ist überall.


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