Geschenke
»Liebes Kind, was hast du denn da für schöne neue Ohren!«
»Großmama, das sind keine neuen Ohren.«
»Liebes Kind, was hast du denn da für einen schönen neuen Mund!«
»Großmama, das ist kein neuer Mund.«
»Liebes Kind, was hast du denn da für schöne neue Augen!«
»Großmama, das sind keine neuen Augen.«
Aus drei Tiefen kamen sie: Ohren, Mund und Augen.
Aus drei Tiefen, die spuckten.
Mit drei Winden kamen sie: Ohren, Mund und Augen.
Mit drei staubigen Winden.
Mit drei Meeren kamen sie: Ohren, Mund und Augen.
Mit drei leeren Meeren.
Anmerkung des Autors:
Dieses Gedicht schrieb ich, angeregt von »Geschenke«, der ultrakurzen
ersten Geschichte in Rudolf Stirns Ein
Telefongespräch mit Mapulski, am 23. März 2004. Er
hatte die Geschichte bei unserer gemeinsamen Lesung in Stuttgart-Ost am
22. März 2004 ganz zum Schluss vorgelesen. Ich schickte ihm das
Gedicht per E-Mail. Später sprachen wir am Telefon darüber –
ich beschrieb es als eine Mischung aus Brüder Grimm und dem
spanischen Volksgedicht »Llego con tres heridas«. In Rudolfs Geschichte
bekommt ein Kind neue Ohren, ein neues Gesicht und einen neuen Mund.
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Rudolf Stirn liest, Kurt Holzkämper begleitet am Bass
Einleitende Worte zur Lesung von Rudolf Stirn, »Der Schattenzirkus
ruft«, 23. November 2003 bei den Stuttgarter Buchwochen
In der Antike waren Erkenntnis- und Vorstellungswelt ununterscheidbar.
Homers Ilias galt den Griechen als wissenschaftliche Geschichte ebenso wie
den Römern die Werke des Tacitus, der munter Legenden und Fakten
durcheinander mischte. »Es sind nicht die Dinge selbst, die uns ein
Leben lang umtreiben, sondern es sind die Vorstellungen, die wir uns von
den Dingen machen«, sagt Montaigne in den Essais.
Wenn »Der Schattenzirkus ruft« und es heißt: »Der Garten
träumt, sagte er. Der Schattenzirkus ist da. ... Sei leise, sagte ich
beschwörend, die Wände der Häuser sind aus Papier«, dann scheint
es mir eben genau um diese Vorstellungen zu gehen, die wir uns von den
Dingen machen. Und es scheint auch ein Stück weit der »eine
Ton« zu sein, der Rudolf Stirn in seinen Geschichten immer wieder
umtreibt.
Geboren in Stuttgart, seit vielen Jahren in Weissach im Tal lebend.
Studium der Germanistik und der Klassischen Philologie, der Politologie,
Soziologie und Volkswirtschaft, gibt sein Lebenslauf preis und zeigt damit
gleichzeitig den Horizont auf, vor dem seine zahlreichen Romane,
Erzählungen und Theaterstücke sich entfalten. Schon die Titel seiner
Bücher verraten auch etwas von der Art seines Erzählens, so z.B. »Der goldne Tropf — Erzählung aus Backpfeif«,
»Der
Inselkönig — Fantasiestück in Callots Manier« oder »Mörike,
der Kanzler, Kleiner und Ich — Capriccio« — stets ein
ironisch-liebevoller Blick auf die Absurditäten von Alltag und Politik,
auf einen (vorläufigen) Höhepunkt getrieben in »Der Schattenzirkus
ruft«, ein Roman in Miniaturen, der in aller Kürze ein Panoptikum an
Figuren heraufbeschwört, ein Ich-Erzähler mit seiner Frau Elsa, Carlo und seine Frau Julia, aber sind es wirklich
zwei verschiedene Ehepaare in dieser seltsamen Wohngemeinschaft? Und die
Zirkusleute, der große Pupo mit seinen Muskeln, Othello, der Dompteur,
Carambolo, der Narr und Giselle, die Tänzerin — oder ist sie
Blumenverkäuferin? Sie alle sind Zirkus-Darsteller und Alltags-Menschen
zugleich. Wirklichkeit und Vorstellung sind untrennbar miteinander
verknüpft und lassen sich nicht fein logisch trennen mit dem
Seziermesser. Einige Beispiele, zufällig aus dem Schattenzirkus
herausgenommen, zeigen dies: »Clorinde (eine Nachbarin) bestürmte
mich. Sie trug einen Schwung abgenommener Untermieter über dem Arm,
frisch von der Leine.« — »Die Hacke, mit der ich meinen Zorn
klein machte, lehnte an der Mauer. Daneben der Pfarrer. Er hatte begonnen
die Namen aus meinen Kleidern zu schneiden.« — »In meiner Brust wurde eine
Fabrik stillgelegt, die Arbeiter waren ohne Hoffnung.« Aktuelle
Gegenwart und geschichtliche Ereignisse waren in allen Zeiten nicht so
weit voneinander entfernt. Die Unordnung der Welt lässt uns niemals los.
— »Wenn Elsa vor den großen Schrank trat, geriet sie oft in Wut.
In allen Taschen Gedichte, schrie sie. Sie bleute den Anzug, zerrte an den Nähten,
den Laschen und fetzte das Futter entzwei. Entsetzen fuhr in das
Bügeleisen, die Hosen fingen zu zittern und beten an.« — »Meinen Schatten essend, den von Jahren, den auf mich zuschnellenden
Rausch der Erinnerung, ich folgte ihm, vorbei an den rebensatten Hängen,
knapp über dem Abgrund.«
»Frage deine Wirklichkeit nicht: "Warum", frage deine Träume:
"Warum nicht?"« sagt George Bernard Shaw.
Der Schattenzirkus ruft. Und wer weiß schon, welche Wirklichkeit in den
Traumzelten steckt. Der Schattenzirkus ist überall.
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