Eine Übung in Synästhesie, angeregt durch Leonora Carrington
Marbellas Einweihung geschah auf so brutale Weise, dass ihr Mund halb offen blieb.
Der Lehrer - mon prof - schlug auf ein Tonfaß, das etwa die Größe einer mittleren Trommel hatte und oben leicht eingedellt war. Er benutzte dazu einen Spielkegel, etwas länger als normal, und schlug mit einer solchen Gewalttätigkeit zu, dass kleine Klumpen des weichen Behälters in alle Richtungen davonflogen, seltsamerweise jedoch minutenlangsam. So schien es zumindest Marbella, deren Augen glasig geworden waren.
Mon prof führte sie in das nächste Zimmer, dessen Wände in einem intensiven Dunkelrot tapeziert waren und das nichts enthielt außer einem in der Mitte aufgestellten Pferd aus Leder und Holz. "Steig auf!" befahl der Lehrer Marbella.
Stumm vor Entsetzen schüttelte sie den Kopf. In instinktiver Furcht entblößten ihre Lippen einen Teil ihrer Zähne.
Mon prof nahm sie, ohne zu zögern, auf seine muskulösen, eigentlich aber ziemlich dünnen, stark behaarten Arme und setzte sie trotz ihres markerschütternden Aufschreis, ähnlich dem eines Tiers im Todeskampf und mit geschlossenen Augen ausgestoßen, auf dem Pferd ab. Er befahl ihr, die Beine auf beiden Seiten des Pferdes herabhängen zu lassen. Sie weigerte sich mit zusammengepreßten Lippen. Dicke Tränen traten unter ihren zitternden Lidern hervor. Mon prof packte sie an den Knöcheln, drückte ihr die Beine auseinander und dann an den Flanken des Pferdes hinab.
"Nun, war das wirklich so schlimm?" fragte er sanft. Marbellas Gesicht zuckte unter strömenden Tränen. Sie begann, ein Wort zu formen, aber der dicke, salzige Speichel in ihrem Mund hinderte sie daran, es auszusprechen. Ihr kurzes, glattes Haar zitterte.
Sie schluckte den Speichel, der sich immer wieder neu bildete. Sie schluckte vielleicht fünfmal, bis sie endlich stammelnd herausbrachte, "Machen - machen Sie - ein - ein Ende!" Sie schlug die braungrauen Augen auf und sah alles in einem strahlenden Blau, zwischen Kobalt und Stahl.
Mehrere Luftballone trieben im Raum, etwa in Höhe der Schultern des Lehrers, und drehten sich leicht in der Luft. Ihre Schnüre bewegten sich wie dünne Geiseln. Auch drei kleine Tiere waren da - Ferkel, etwa einen Monat alt, nur dass sie, wie auch der Lehrer, die Ballone und der ganze Raum, in strahlendes Blau getaucht waren. Etwas anderes begann durch das Blau durchzuscheinen.
Es war beige. In den Ballons nahm es die Form jonglierender Ford Granadas an, in den Ferkeln zeigte es sich als kleine Pyramiden, und aus dem Lehrer trat es in Schubladen heraus wie in einem Gemälde von Salvador Dalí. Die Ferkel fingen an, schimpfend zu bellen; bei jedem Bellen bekamen die Pyramiden Risse, die sich danach sofort wieder schlossen.
Der Lehrer, der nun grünstichig aussah, griff in die Schublade über der linken Brust und zog eine Rolle mit einem violetten Band heraus, die er wegwarf, wobei er das Ende das Bandes in der Hand behielt.
Marbellas Augen, nach dem Trocknen der Tränen wieder glasig, folgten dem violetten Band wie magisch angezogen. Je langsamer das Band sich entrollte, desto langsamer lebte sie. Sie lebte in den Windungen und Schlaufen des Bandes. Jede Schlaufe schnürte ihr den Atem ab. Schließlich hatte sie nur noch Angst davor, das Band würde eine endlose Schlaufe beschreiben oder irgendwann aufhören, sich zu entrollen. Denn das würde auch ihr Ende bedeuten.
Das Band entrollte sich jedoch niemals ganz. Statt dessen konnte Marbella ihre Augen wieder von ihm lösen, und nun fühlten sie sich viskos an, nicht mehr glasig, und sie genoß es mehrere Minuten lang, sie ganz einfach in alle möglichen Richtungen zu drehen.
Aus dem anderen Zimmer schoss ein orangener Duft wie eine Flamme herein; aus dem halb geschlossenen Mund von mon prof, zwischen seinen Zähnen mit den breiten Lücken hindurch, fauchte ein gelbbrauner Gestank, und der Nagel des linken großen Zehs von mon prof drückte einen roten Duftpunkt hinaus. Eines der Ferkel hob das rechte Hinterbein, und an seinem Huf bildete sich eine Blase eines weichen weißen Geruchs, während in der Pyramide des zweiten Ferkels eine rubinrote Mottenkugel mit chemisch überhöhtem Kirschenduft erschien.
Marbella schaute durch ihren Körper hindurch auf das Pferd unter sich. Feine schwarze Haare hatten angefangen, aus dem glatten Leder zu sprossen.
Marbella blickte durch ihre Brüste hindurch und erblickte mon prof wie in einem halb transparenten Spiegel. Mit einer Hand öffnete er seine Schubladen, mit einem Fuß schloß er sie wieder. Und fortwährend sprangen aus den Schubladen braune, smaragdgrüne und korallrote Taranteln, Skorpione und Neunaugen heraus und wieder hinein.
Mon prof grinste und schloß seine Schubladen endgültig, zuletzt die in seiner Nase, dann fiel er in einen grauen Rauch zusammen, der schließlich nur noch wie eine Zunge aus einem perlmutterfarbenen Fläschchen auf dem Boden herausleckte.
Marbella war allein. Ihr Mund stand, wie bereits zu Beginn gesagt, halb offen. Marbella war allein.
© Johannes Beilharz 2001.