Portrait von Charlotte Mew (Dorothy Hawksley) | Charlotte Mew Mew: Collected Poems and Selected Prose | Links

Charlotte Mew

Kleine Gedichtauswahl in deutscher Übertragung von Johannes Beilharz

1. Mein Herz ist lahm
2. Juni 1915
3. Ich liebte den Frühling so
4. Zimmer
5. Die Schattenfänger
6. A quoi bon dire
7. Ich habe die Tore durchschritten

Mein Herz ist lahm

Mein Herz ist lahm, weil es deinem so schnell,

So lange nachrannte.

Sollen wir langsam heimwärts gehen und uns dabei alles Vorbeigegangene ansehen,

Vielleicht heute?

   

Heimwärts die stillen Abendstrassen entlang unter stillem Himmel,

Ohne viel zu reden.

Einen Augenblick lang schenkst du mir deine Augen,

Wenn dir meine Berührung genehm ist.

   

Aber morgen nicht. Ich bin ganz außer Atem;

Dann, obwohl du unverändert aussiehst,

Ist vielleicht etwas schöner im Gesicht der Liebe im Tod,

Wie es dein Herz sieht, wenn es den gegangenen Weg zurückläuft;

Mein Herz ist lahm.

   

My Heart is Lame

 

Juni 1915

Wer vermöchte heute der ersten Junirose zu gedenken?

Vielleicht reicht sie ein Kind mit leuchtenden Augen und rauem hellem Haar

Zu uns hinab auf einen sonnig-grünen Weg, die wir fast so weit entfernt sind

Wie die furchtlosen Sterne von diesen verhüllten Lampen der Stadt.

Was ist schon ein kleiner Juni für eine große, zerbrochene Welt mit glanzlosen Augen,

Trübe vom zu langen Blick ins Angesicht der Trauer, des Todes?

Oder was ist die zerbrochene Welt für den Juni und ihn,

Ihn mit der kleinen, erwartungsvollen Hand, den leuchtenden Augen, dem rauen hellen Kopf?

   

June, 1915

  

Ich liebte den Frühling so

Letztes Jahr liebte ich den Frühling so

Weil du da warst; –

Auch die Drosseln –

Weil du ihnen so gerne lauschtest –

Ich liebte dich so.

   

Dieses Jahr ist es anders, –

Ich werde deiner nicht gedenken.

Doch werde ich den Frühling des Frühlings wegen lieben,

Genauso wie die Drossel.

 

I so liked Spring

 

Zimmer

Ich erinnere mich an Zimmer, die mit beitrugen

Zur stetigen Verlangsamung des Herzens.

Das Zimmer in Paris, das Zimmer in Genf,

Das kleine feuchte Zimmer mit dem Seetanggeruch,

Und jenen unablässigen, unerträglichen Klang der Wellen –

Zimmer in denen – zum Guten oder Schlechten – etwas starb.

Doch hier ist das Zimmer, in dem wir beide aufgebahrt liegen,

Obwohl wir jeden Morgen aufzuwachen scheinen und uns genau so gut wieder schlafend stellen könnten,

Wie wir es in dem anderen, stilleren, staubigeren Bett

Da draußen in der Sonne – im Regen – tun werden.

    

Rooms

  

Die Schattenfänger

Ich glaube, sie waren etwa so groß

Wie Heuhaufen. Sie rannten vorbei

Und fingen Schattenflecken auf der sonnigen Straße:

'Ich hab einen', rief die Schwester dem Bruder zu.

'Ich hab zwei.' 'Und ich einen anderen.'

Auf ihren kleinen bloßen Füßen flitzten sie weg

Und ließen den Schatten in der sonnigen Straße zurück.

    

The Shade-Catchers

 

A quoi bon dire

Vor siebzehn Jahren sagtest du

Etwas, das wie Abschied klang;

Und alle denken, dass du tot bist,

Alle außer mir.

   

Jetzt werde ich steif und kalt

Und verabschiede mich von diesem und jenem;

Und alle sehen, dass ich alt bin,

Alle außer dir.

   

Und eines schönen Morgens werden sich auf einem sonnigen Weg

Ein Junge und ein Mädchen treffen, einander küssen und schwören,

Dass niemand jemals lieben wird wie sie,

Während du da drüben

Gelächelt haben wirst, nachdem ich dir das Haar zurückstrich.

 

A quoi bon dire

 

Ich habe die Tore durchschritten

Sein Herz war für mich eine Stadt mit Palästen, Zinnen und glänzenden Türmen;

Ich sah es wie im Traum, – ich weiß nicht mehr, wie lang ich schlief;

Ich erinnere mich an die Bäume und die hohen weißen Mauern, und wie die Sonne stets auf die Türme schien;

Die Mauern stehen noch heute, auch die Tore: ich habe die Tore durchschritten, ich habe mich weitergetastet, ich bin gekrochen,

Zurück, zurück. Die Straßen sind voller Staub und Blut; sie sind leer; Dunkelheit lastet auf ihnen;

Sein Herz ist eine Stadt erloschener Lichter, ausgesetzt heftigen Winden und himmlischem Regen, unrein und ungekehrt,

Wie das Herz der heiligen Stadt, des alten, blinden, schönen Jerusalem,

Das Christus beweinte.

   

I Have Been Through the Gates

  

Die englischen Ausgangstexte für diese Übersetzungen stammen aus Charlotte Mew, Collected Poems and Selected Prose, selected, edited and with an introduction by Val Warner, Fyfield Books, Manchester, 1997.

Das Portrait von Charlotte Mew auf der links abgebildeten Umschlagseite stammt von Dorothy Hawksley (1926).

Die britische Dichterin Charlotte Mew (1869-1928) wurde von vielen ihrer bekannteren literarischen Zeitgenossen – darunter Ezra Pound, Siegfried Sassoon, Edith Sitwell, Virginia Woolf und auch Dylan Thomas – hoch geschätzt. Für Thomas Hardy war sie sogar 'the best living woman poet'. Trotzdem geriet sie lange Zeit fast völlig in Vergessenheit. Seit der Veröffentlichung von Collected Poems and Prose 1981 wird ihrem schmalen Werk wieder vermehrt Aufmerksamkeit zuteil.

Ich wurde auf sie aufmerksam durch eine Erwähnung in einem Gedicht des Amerikaners James Schuyler.

Johannes Beilharz, September 2006

Copyright © der Übersetzung Johannes Beilharz 2001. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Übersetzers.

 

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