NACHWORT
In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen stand die spanische Dichtung noch einmal in der vordersten Reihe der europäischen Lyrik. Nach zweihundert Jahren Abwesenheit war Spanien in der Literatur wieder da. Aus der Tradition des großen spanischen Jahrhunderts zwischen Renaissance und Barock entstand eine Dichtung, die zugleich modern und doch populär war.
Die Wiederbelebung von Góngora, Lope de Vega und Quevedo war der spanische Beitrag zu einem neuen europäischen Geschmack, der im späten 16. und 17. Jahrhundert frische ästhetische Möglichkeiten entdeckte. Es waren die Jahre nach dem ersten Weltkrieg, als in der Musik sich der Akzent von Klassik und Romantik auf den Barock verschob und Monteverdi die erregendste Entdeckung war, als in England Donne wieder Mode wurde, und in Deutschland die Kunstgeschichte den Barock rehabilitiert hatte, und man anfing, die deutsche Barocklyrik neu zu drucken.
Aber während unsere literarische Tradition, im Gegensatz zur Musik, nicht ernsthaft hinter die Vorklassik zurückreicht, und man aus der Tradition des Barock heraus in der deutschen Sprache keine zeitgenössische Kunst schaffen konnte, waren in Spanien die Stilelemente virulent geworden, die die große Literatur des 16. Jahrhunderts bestimmt hatten, und die als solche weit hinter die Renaissance zurückgehen, bis in die spanischen Anfänge. Bild, Überraschung, Assoziation ... die Möglichkeit, alles auf alles zu beziehen, die gesamten von Rationalismus und Bürgertum in Acht und Bann getanen Requisiten der Marinisten und Euphuisten, gewannen einen neuen Sinn innerhalb der Zersetzung der Welt des 19. Jahrhunderts. Die spanischsten aller Mittel erwiesen sich auf einmal als die geeigneten Werkzeuge, um der neuen europäischen Situation zu einer Aussage zu verhelfen, wie sie die literarischen Bewegungen, die im französischen Surrealismus mündeten, gefordert hatten.
Daß der Vers wie ein Schlüssel sei,
der tausend Türen öffnet.
Ein Blatt fällt, es fliegt etwas vorüber:
was die Augen sehen, sei Schöpfung ...
stellt 1916 in Paris der Chilene Vicente Huidobro als Programm für seinen Creationismus auf.
In der Tat schuf der europäische Avantgardismus der spanischen Tradition des Bildes eine neue Plattform: das Bild wurde wieder Sprungbrett, war wieder das große Vielleicht, auf das man hinaufsteigen kann, um zu sehen, wie die Welt aussieht, ein Experiment ohne moralische Verpflichtung, nicht eine Gleichung, die sich deckt. Das Bild verhielt sich nicht länger konzentrisch zum Ding, sondern rückte, vom Sinn her gesehen, an die Peripherie, wurde zum Ausweg in die poetische Wirklichkeit aus einer absurd begrenzten Welt: ein Mittel zur Freiheit. Mit der Formel modern und doch populär hat die spanische Lyrik wie keine andere die eigentlichen Ziele des französischen Surrealismus erreicht: eine Auflösung der bürgerlichen Welt, die die menschliche Substanz als solche nicht angreift. Der einzige Gegenstand dieser Dichtung ist der Mensch. Und also ist hier die Thematik rein menschlich: Liebe, Tod, und die Dinge des einfachen Lebens.
Spanien brachte für eine solche Kunst Voraussetzungen mit wie kaum ein Land in Europa. Das europäische Fazit aus dem 17. Jahrhundert war in Spanien nicht gezogen worden. Die Abgeschlossenheit des Landes unter den spanischen Habsburgern (oder bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, wenn man von dem kurzen Zwischenspiel der Aufklärung absieht) hatte verhindert, daß aus der religiös bestimmten Gemeinschaft eine säkularisierte Gesellschaft geworden wäre. Der Riß, den die Renaissance überall zwischen den Gebildeten und dem Volk geöffnet hatte, war in Spanien an der Oberfläche geblieben. Die offenbaren Nachteile dieser historischen Entwicklung verkehrten sich in Vorteile, als eine Kunst heraufkam, die gegen das 19. Jahrhundert gekehrt war. Man konnte mit gutem Gewissen volkstümlich sein.
Das frühe und das moderne Gedicht wachsen in Spanien aus der gleichen lyrischen Voraussetzung. Das Vergnügen am Zufall von Reim und Takt, der Wort oder Bild aus der Flut des Sinnlosen auftauchen läßt, ist beiden gemeinsam. Es verbindet die aus der Mechanik der Sprache und dem Automatismus entwickelte moderne dichterische Technik mit der mittelalterlich-spielerischen Anmut eines frühkastilischen villancico wie:
Ich war immer braun und klein.
Die Einen sagen ja, die Andern sagen nein.
Die, die um mich werben,
sagen ja,
die, die für mich sterben,
sagen nein.
Ich war immer braun und klein.
Die Einen sagen ja, die Andern sagen nein.
In seinem 1925 geschriebenen Tagebuch einer Reise mit der Geliebten gelingen Rafael Alberti aus dieser Tradition heraus moderne Verse wie:
Im Erlenschatten, Liebste,
im Erlenschatten, nicht.
Unter der Pappel, ja,
dem Weiß und Grün der Pappel.
Weißes Blatt du,
grünes Blatt ich.
Im Deutschen können wir nicht zurück zu Liedern wie Walthers von der Vogelweide
under der linden an der heide
da unser zweier bette was.
Die mittelalterliche Literatur ist für uns keine lebendige Tradition, aus der heraus heute eine moderne Aussage gewonnen werden könnte. Und das Volkslied, aus dem Sturm und Drang und die Romantik schöpften, hat vorläufig keinen Erneuerer bei uns gefunden.
In Spanien aber leistet ein weitgehend a-historisches Lebensgefühl dem surrealistischen Programm Vorschub, demzufolge Dichtung zeitgenössische Aussage des im Traum, im Volksbrauch, im Anonymen rein Erhaltenen ist. Es bedarf keiner romantischen Anstrengung, um der Sprache die volkstümlichen Töne abzugewinnen. Das a-historische Klima ist so stark, daß gelegentlich Geburtsort, Jahr und äußere Umstände, schon während der Dichter noch lebt, im Unklaren verschwimmen. Wo sonst könnte eine moderne Anthologie von einem bekannten Dichter angeben: »1884 geboren, aus Salamanca, nach andern Aussagen aus Zamora, vielleicht auch aus dem Kantabrischen«; wo sonst könnte man von einem in den 20er Jahren ins Ausland Gegangenen versichern: »ich bin Zeuge, daß er nicht ein Pseudonym oder eine erfundene Figur ist. Er war ein Wesen von Fleisch und Blut, sympathisch und angenehm, hatte prachtvolle Zähne, eine große Stirn, und trug sich elegant...«.
Der Boden, aus dem diese neue Dichtung wuchs, war Andalusien, die Landschaft der ältesten erhaltenen Dichtung in spanischer Sprache. Ein glücklicher Fund hat in den letzten Jahren eine unsern Carmina Burana vergleichbare Sammlung hebräischer Lieder mit spanischen Einsprengseln zutage gebracht. Gleichgültig ob man die spanischen Refrains in der arabischen und hebräischen Lyrik des 11. und 12. Jahrhunderts als Zeugnis dafür nimmt, daß die Anfänge der romanischen Dichtung in Andalusien liegen, oder ob man in ihnen nur zufällig erhaltene Beweise für eine untergegangene ältere Sprache sieht, sie schlagen einen Ton an, der bis heute in Andalusien weiterklingt:
Mein Geliebter ist an der Tür.
Was soll ich tun, Mutter?
heißt es in einer dieser ältesten canciones de amigo. Das ist der Ton, aus dem heraus noch das Theater Federico García Lorcas entstehen konnte. Aber schon im arabischen Andalusien sind die Menschen wie nirgends sonst auf sich selbst bezogen. Es gibt, wie Ortega y Gasset sagt, »kein Volk, das mehr zum Narzißmus neigt als die Andalusier«.
Diese doppelte Erbschaft hat die spanische Lyrik angetreten. Denn fast die gesamte moderne spanische Dichtung ist andalusisch oder stammt von der Mittelmeer-Ostküste.
Der neue Einsatz liegt noch in der Zeit des Symbolismus. Es gibt bei aller Verschiedenheit der Mittel im einzelnen kaum einen modernen spanischen Dichter, der sich dem Einfluß der noch vor dem ersten Weltkrieg entstandenen Gedichte von Juan Ramón Jiménez und ihrer andalusischen Intensität der Innerlichkeit entzöge. Es ist die seelische Spannkraft von Juan Ramón Jiménez, die die Sprache aussagefähig gemacht hat für ein neues, nach der Bestätigung im Kosmos suchendes Ichgefühl (»Die Füße fest im Grund, Kopf und Brust weit in der Luft der Welt«), so wie etwas früher der nikaraguensische Dichter Rubén Darío sie geschmeidig gemacht hatte für die den Bindungen der feudalen Welt entwachsene Beziehung zwischen Ich und Gesellschaft. Die Sprache gewinnt den europäischen Bezug zurück, den sie seit dem Barock, seit Quevedo, verloren hatte. (Die gesamte zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war für Spanien politisch wie literarisch eine Reihe von Versuchen, die Gemeinsamkeit mit Europa wieder herzustellen.) Durch Juan Ramón Jiménez sind dem Spanischen endgültig jene Seelenlagen erschlossen worden, die Europa seit der Vorromantik angereichert und differenziert hatten. Und so entsteht zuerst wieder eine Dichtung, die nicht (wie im 18. Jahrhundert unter den spanischen Bourbonen) Europa nachahmt, sondern die die spanischen Inhalte auf der Höhe der europäischen Erfahrung spanisch aussagt.
Vielleicht nirgends so deutlich wie am spanischsten aller Themen, dem des desengaño, der Enttäuschung, läßt sich die tiefe Wurzel der modernen spanischen Lyrik zeigen. Das Sich-Überschlagen auf das Ende zu, eine Art metaphysischer Hast, die in allem das tödliche Ende vorwegnimmt und in der Knospe »den grünen Irrtum der Rose« sieht, ist in der spanischen Dichtung von ihren Anfängen her angelegt: der Vorhang wird jäh über dem Ende aufgezogen und die Dinge werden nackt gemacht, um sie in ihrer hora de la verdad zu betrachten, »der Stunde der Wahrheit«, wie die letzte Stunde auf Spanisch heißt. Mit einer furchtbaren Neugier wird die ganze Existenz auf ihren Gehalt an Tod hin geprüft. Gut zu leben ist weniger wichtig in Spanien als gut zu sterben. Eine Art böser Blick der Enttäuschung sieht durch den Morgen hindurch bereits den Abend, und auf der Höhe des Lebens den Tod. Die radikale Enttäuschung dessen, der in der Liebe den Tod geschmeckt hat, ist im übrigen ein durchaus mittelalterliches Erlebnis:
Bist du meine schönste Freundin,
warum siehst du nicht auf mich?
— Meine Augen, die dich ansahn,
die gab den Schatten ich.
Bist du meine schönste Freundin,
warum nicht küssest du mich ?
— Die Lippen, die dich küßten,
die gab der Erde ich.
Bist du meine schönste Freundin,
warum nicht umarmst du mich ?
— Die Arme, die dich umarmten,
die bedeckten mit Würmern sich.
Aber von dieser frühen spanischen Romanze führt ein gerader Weg zu dem
Die Illusion des Morgens
und die Küsse
lösen sich auf.
Übrig bleibt nur
die Leere
in Lorcas Zigeuner-Seguidilla, oder zu Alberto Baeza Flores' Irdischem Paradies:
... und dann
Rose im Herbst, du, meine Freundin.
Du, Winterrose, meine Taube.
Rose aus Asche du, Geliebte.
Die Literatur der Enttäuschung setzt die Welt als Täuschung voraus. Daß die Dinge unzuverlässig sind (nicht so, wie das 18. und 19. Jahrhundert, die zivilen, die unspanischen Jahrhunderte sie hingestellt haben), ist eine spanische Grunderfahrung. Der Mensch ist immer allein. Die Welt ist unwirklich. (»La vida es sueño«, »Das Leben ist Traum«, hatte Calderón wohllautender und platonischer gesagt — statt des radikalen Nichts unserer Tage.) Was für zweihundert Jahre philosophische Spekulation schien, ist heute unmittelbar greifbar. Daß die Täuschung jedem auf den Fingernägeln brennt, gibt einem Gedicht wie Rafael Albertis Getäuscht hat sich die Taube, seinem:
... sie glaubte
dein Rock sei deine Bluse,
in deinem Herzen sei ihr Nest.
Sie hat sich getäuscht
die metaphysische Aktualität.
Das gleiche Thema, von den Dichtern der Generation vor Alberti behandelt, wie zum Beispiel Alfonso Reyes' Gefährliche Blume, verliert an unmittelbarer Bedrohlichkeit:
Mohnblume, rotes Mohngesicht,
täusche mich, aber lieb mich nicht!
Die Frau in der Blume ist nicht ganz ernst gemeint, sie ist nicht mehr als eine liebenswürdige erotische Laune ... Der Dichter ist noch nicht ausgeliefert an die Unsicherheit, an den uralten Schrecken, daß jedes ein anderes verbirgt.
Auch bei Machado gehören solche Gedanken der Randzone seines Werks an, die der Dichter selbst als apokryph bezeichnet und in der er sich hinter erfundenen Figuren (»Philosophen der Erotik« wie Abel Martín und Juan de Mairena) versteckt. Aphorismen wie Machados: »Die Geliebte kommt nie zum Rendezvous. Sie ist das, was beim Treffen nicht da ist«, gehören noch in die erotischen Spekulationen des fin de siècle und sind um eine entscheidende Lage theoretischer als das, was an Enttäuschung in den 20er Jahren ausdrückbar wird. All dies bleibt bei den Dichtern der älteren Generation mehr an der Oberfläche, auch wenn es Verse sind, die hinter der Zäsur des ersten Weltkriegs liegen, wie Moreno Villas nihilistische Maler-aperçus über die Austauschbarkeit der Farbe:
Gib mir deinen grünen Stock
und nimm meinen granatapfelroten.
Im übrigen ist die Verbindung von Maler und Dichter bei Alberti, Moreno Villa und García Lorca für eine wesentlich ins Vordergründig-Optische gerückte Welt von entscheidender Bedeutung.
Andrerseits ist die mit Bildern verstellte Wirklichkeit, in der die Dinge austauschbar und daher fragwürdig sind, eine Wirklichkeit, die als Zufall, nicht als Ordnung erfahren wird. Das ist ältestes morgenländisches Erbteil der spanischen Lyrik. Vom letzten großen Dichter des muselmanischen Spanien, dem Araber Ben Zamrak (1555 bis nach 1574), (das heißt also, europäisch gesehen, einem jüngeren Zeitgenossen Petrarcas) besitzen wir ein Gedicht auf die Flecken der Giraffe, das in seiner Ausschließlichkeit des Optischen völlig modern wirkt:
Sie hat Flanken aus Brokat
und funkelt von Edelsteinen
wie eine Handstickerei der Natur.
Ihr Fell täuscht den Blick wie ein Garten,
wo Binsen über Anemonen stehn:
Weiß liegt in dichtem Gelb
wie Silber zwischen Gold fließt.
Sie gleicht Narzissenbeeten an Hängen
über die die Vipern der Bäche laufen.
Die kunstvolle Reihung der arabischen Dichtung drängt das Ding als solches zurück, löst es auf in Bilder. Sie enthält so jenes Element der Überraschung, das zum festen Bestand der spanischen Poetik gehört und das sich Goethe vom Arabischen her in den schönsten Versen seiner Alterslyrik zu eigen gemacht hat:
Harrend auf des Morgens Wonne,
Östlich spähend ihren Lauf,
Ging auf einmal mir die Sonne
Wunderbar im Süden auf.
Die Überraschung erhellt die Wirklichkeit. Für einen Augenblick ist alles überklar, in Staunen, Schmerz, Täuschung oder Enttäuschung. Dann schlägt über dem Augenblick — einem sehr andern Augenblick als dem optimistischen des »Verweile doch! du bist so schön!« — das Dunkel zusammen:
Kaum kann sich das Gedächtnis wehren
gegen die dunklen Hände des Vergessens
heißt es bei Quevedo.
Aber aus diesem Dunkel steigen die Wünsche an den Tag, und zwar so, daß jedes Ding gleichsam zur Stufe wird, die in die Wirklichkeit der Wünsche führt.
Seit Baudelaires:
Homme libre, tu chériras toujours la mer
kenne ich wenig Gedichte, die einen solch unbändigen Wunsch zur Freiheit des Meers ausdrücken, die eine solche Treppe zur Freiheit sind, von Bild zu Bild, wie Albertis Mitte der 20er Jahre entstandener Matrose an Land (p. 13 dieser Ausgabe).
Aus der Funktion des Enthüllens, aus dem Enttäuschen heraus bekommt auch eine politische und soziale Dichtung wie die von Jorge Carrera Andrade, Nicolás Guillén und Hector Incháustegui Cabral ihren besonderen Geschmack. Ganz abgesehen davon, daß Protest und Auflehnung volkstümliche Attitüden sind. Die Auflehnung gegen die Willkür ist das unverlierbare Recht des Einzelnen. Das geht durch die ganze spanische Literatur und ist das Erbteil eines Mittelalters, das im Kampf der Communen gegen den Feudalherrn bestand. Die Anklage gegen die Zeit aber gehört zu den ältesten Rechten des Dichters. Daß sie vom Menschen und nicht von abstrakten Positionen ausgeht, ist ein Vorzug der romanischen Literatur.
Zum populären Anspruch der modernen spanischen Dichtung gehören neben der Thematik des desengaño ganz bestimmte folkloristische Elemente als Inhalte des Gedichts. Einen besonderen Platz nimmt, neben traditionellen Objekten wie Herz, Rose, Messer oder Stier, die Volksmusik ein, mit ihren Gitarren, den Volkssängern, den Tänzerinnen, den Zigeunern und dem Cante Jondo ... jener merkwürdigen, letztlich aus dem Arabischen hergeleiteten Singform Andalusiens ... mit ihren hohen Schleifen im Falsett, wie ein Schlittschuhlaufen der Stimme im Unmöglichen. (Das heißt also: traditionelle Spaniensouvenirs — nur nicht mehr für sentimentale Reisende, sondern für die Zeitgenossen Picassos.) »Die Zigeuner sind ein Thema. Das ist alles«, schreibt Lorca an Jorge Guillén ... der beste Stoff, um eine Moritat modern zu erzählen, wie es der Zigeunerromanzero tut.
Neben dem bekannteren Zigeunerromanzero hat Lorca in seinem früher entstandenen, aber erst später (1951) veröffentlichten Cante-Jondo-Buch die verschiedenen Lied‑ und Tanzformen wie die Seguidilla, die Saeta, die Petenera, die Soledad zum Vorwurf genommen, sie personifiziert und die Elemente ihrer Welt als handelnde Wesen auftreten lassen. Die Inhalte und Ideale der Volkskunst werden aufgelöst in ihre möglichen Assoziationen, eine durchaus dem Surrealismus verwandte Technik, die auf der Basis des Volkstümlichen eine neue Ebene für die Begegnung des Dichters mit seinem Publikum schafft.
In Purcells Irischer Weise und Halffters Tanz der Hirtin hat Alberti das gleiche Prinzip der assoziativen Inhalte auf die Kunstmusik übertragen. Dagegen ist im Menuett von Rameau (und andern hier nicht übertragenen Stücken) die Wiedergabe der Musik als eine dem Ton nachgebildete Wortbewegung verstanden, als Rückführung auf eine fast musikalische Chiffre. Albertis Entleerung, Mechanisierung und Skelettierung der Sprache hat damit teil an einem gesamteuropäischen intellektuellen Sensualismus, der ebenso zu Góngora zurück wie in die Gemeinschaft mit Joyce oder, im Deutschen, mit dem Dada führt.
Die französische Lyrik dieses Jahrhunderts hat im übrigen keineswegs nur über den Surrealismus auf die spanische Dichtung gewirkt. Die gedanklichen und symbolistischen Elemente bei Juan Ramón Jiménez haben bei den etwas älteren, noch wesentlich in der Welt vor 1920 verwurzelten Dichtern der kastilischen Gruppe eine Ausbildung erfahren, die sie unmittelbarer als die Andalusier an eine europäische Entwicklung wie die von Mallarmé zu Valéry, oder an Péguy anschließt. Auch Gedichte wie Jorge Guilléns Garten wären ohne den Anfang von Juan Ramón Jiménez schwer denkbar.
Aber das Wesentliche in Guilléns Dichtung ist das im Spanischen ungewohnte Ja zur Welt, aus dem ein beständiger Lobgesang auf die Schöpfung wächst. Aus ihm kommt die der Verfremdungstechnik der Andalusier entgegengesetzte Erfahrung, daß die Dinge »konkrete Wunder« sind, oder wie es ein andermal heißt:
Die täglichen Dinge
erscheinen und sind
Wunder, nicht magisch.
Umgekehrt hat die Berührung seines Freundes Pedro Salinas mit der französischen Dichtung — beide Dichter haben einen großen Teil ihres Lebens in Frankreich verbracht — die gedankenschweren Verse von Dort wo die Liebe ihr Unendliches erfindet entstehen lassen. Die Überlegung über die Liebe als solche gehört durchaus in die poetische Tradition Spaniens und stellt Salinas als Glied einer Generation von Valéry bis Rilke heraus, wie diese Verse aus demselben Band von Die Stimme, die ich Dir verdanke zeigen:
Und welcher Aufwand von Kommen und Gehn,
wenn die Liebe hin- und herfliegt
von den Körpern zu den Schatten,
vom Unmöglichen zu den Lippen,
ohne Aufhör, ohne sicher zu sein
ob nicht die Seele aus Fleisch ist
und Schatten von Körpern das, was wir küssen,
wenn es überhaupt etwas ist. Und unsre Angst,
daß wir dem Nichts unsre Zärtlichkeit geben.
Die Scheidung nach Landschaften bleibt immer eine Halbwahrheit. Der im Süden, in Sevilla geborene Luis Cernuda zeigt, daß das Gedankliche kein Privileg der kastilischen Dichter ist. Der Einfluß der Franzosen und die Begegnung mit Hölderlin (von dem Cernuda zusammen mit Jean Gebser eine ausgezeichnete Übertragung ins Spanische gemacht hat) haben eine Lyrik hervorgebracht, die in Bild und Symbol bewußt europäisch ist. Cernuda gehört im übrigen dem Dichterkreis um Aleixandre an, das heißt also, gerade jener Gruppe, die den Surrealismus eigentlich in Spanien eingebürgert hat.
Andrerseits hat innerhalb dieses Zirkels Manuel Altolaguirre die symbolistische Thematik von Juan Ramón Jiménez weitergebildet und der spanischen Literatur einige ihrer schönsten Gedichte geschenkt. Daß sich seine Sprache nicht auf Lope oder Góngora, sondern auf Garcilaso und damit letztlich auf die italienische Renaissance zurückbezieht, gibt ihr eine im Spanischen nicht häufige Weichheit.
Vielleicht die merkwürdigste Gestalt der modernen spanischen Dichtung ist der etwas jüngere, 1910 in Orihuela im Südosten der Halbinsel geborene Miguel Hernández. Seine Jugend als Hirtenjunge war schnell Legende. In der Abgeschlossenheit der Provinz gelang es ihm, die Sprache des großen Jahrhunderts mit einem so unverkennbar eigenen Akzent zu sprechen, daß eine tatsächlich moderne Barocklyrik entstand. Der 1956 erschienene Band Der Blitz ohne Aufhör war eine Sensation. Seine unmittelbare Naturerfahrung, weder literarisch noch sentimental, nährt die Dichtung mit Bildern und Vorstellungen der bäuerlichen Lebensweise wie:
beim Mandelbaum mit seinen Flügelseelen
aus Rosen wie von Rahm ...
Die bald nach Lorcas Klage um Ignacio Sánchez Mejías entstandene Elegie auf den Tod des Freundes kennzeichnet schon von der ersten Terzine an eine Unbedingtheit des Schmerzes, die beispiellos ist in der modernen Literatur:
Ich will mit Tränen Gärtner sein der Erde,
in der du liegst und Dung wirst,
früh, so früh schon, Herzgefährte.
...
Ein harter Griff, wie Eis so kalt ein Hieb,
Arme die unsichtbar ein Mordbeil hoben,
ein roher Stoß war es der dich hinuntertrieb.
Ich kann dem Tod seine Verliebtheit nicht verzeihn,
dem Leben nicht, daß es so unachtsam verschwende,
ich kann der Erde nicht und nichts verzeihn ...
Drei Jahre später zeigt das Gedicht Laßt mir diese Hoffnung! den vom Bürgerkrieg zerbrochenen Dichter.
Die nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen Gedichte weisen thematisch vor allem ein Neues auf: ein ergreifendes Bedürfnis nach Reinheit, wie Aleixandres Singt, Vögel! und Rosales' Autobiographie. Die klassizistische Beruhigung, die eine neue Dichtergruppe kennzeichnet, ist ihrerseits Teil einer europäischen Stilwandlung und liegt außerhalb der Grenzen dieses Bands.
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Amerika hat der spanischen Sprache seine eignen Lagen hinzugefügt. Es ist eigentlich kein Zufall, daß der neue Anschluß an Europa ursprünglich nicht von Spanien her gewonnen wird, sondern aus der geistigen Wahlfreiheit Amerikas, seiner Offenheit für die Welt. Auf dem Umweg über den französischen Parnass hat der Nikaraguenser Rubén Darío der spröde gewordenen Sprache jene Halb- und Vierteltöne mitgeteilt, die diesseits der Pyrenäen seit der Zeit Ludwigs XIV. an die Stelle der absoluten Werte getreten waren. Er hat ihr die Dimension des bleu erobert: sein azul ist nicht romantisches Blau, sondern ein Pariser Bleu. Die Existenz dieses einen Dichters hat ganze Jahrhunderte von Europa nachgeholt. Die außerordentliche Fruchtbarkeit seiner Sprache hat dem Spanischen die Aussagekraft zurückgewonnen, die im 17. Jahrhundert verlorengegangen war, als es zur literarischen Provinz wurde.
Etwas von seiner im Spanischen so seltenen Lebensbejahung — nicht die Vitalität als solche, sondern das Ja dazu — klingt noch in den frühen Versen von Juana de Ibarbourou durch, in der Art, wie die uruguayische Dichterin den spanischen Vorrat an Bildern der Enttäuschung vermeidet. Ihre Gedichte strömen Glück aus:
»... in mir war / gurrende Ewigkeit«.
Der gelegentliche Versuch, im Schlüssel des desengaño zu schreiben, gelingt ihr so wenig wie umgekehrt Anouilh seine pièces roses. Im Wesentlichen sind ihre Gedichte noch aus einer größeren Sicherheit des Lebensgefühls heraus geschrieben. (Die ungebrochene Fortentwicklung der Welt vor den europäischen Katastrophen machte bis vor kurzem den besonderen Reiz der Rio de la Plata-Länder aus.) Allein die Eleganz, mit der in einem ihrer letzten Gedichte die frivolen Dinge des weiblichen Alltags als Kulisse für die Echtheit des Gefühls benutzt werden, würde reichen, um den bewundernden Titel der Johanna von Amerika zu rechtfertigen, den ihr der Kontinent 1929 verliehen hat.
Ganz anders die etwas ältere Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral. Hinter gewissen Floskeln und Gebärden der Eifersucht, die an D'Annunzios Römische Elegien erinnern — das Pseudonym ist in Verehrung für Gabriele D'Annunzio gewählt —, taucht eine fast archaische Leidenschaft auf.
Und ganz so, uralt und zeitlos, nur Mutter und Kind, sind die Wiegenlieder, die wohl zu den schönsten gehören, die je gesungen worden sind. Daß solch ewige Töne heute hervorgebracht werden können, ist der Ungebrochenheit Hispano-Amerikas zu danken. Daß sie so makellos neu gesagt sind, ist das Verdienst einer großen Dichterin der spanischen Sprache.
Vom Indoamerikanischen, zutiefst Irrationalen her muß auch die merkwürdig hingegeben-leise Stimme César Vallejos verstanden werden, mit dem halbgemurmelten:
Es gibt im Leben so schwere Schläge ... ich kanns nicht verstehn,
und jene Urgebärde des religiösen Menschen, der den Engel hinter sich spürt und aufblickt und seine ganze Schuld auf sich zurückkommen fühlt:
Und der Mensch ... so arm ... so arm! Er
hebt die Augen
wie einer, der eine Hand auf der Schulter fühlt,
er hebt die irren Augen und alles, was er gelebt hat,
staut sich im Schacht des Blicks wie eine Pfütze von Schuld.
Der spätere Vallejo ist einer der großen Bahnbrecher der modernen spanischen Dichtung geworden. Auf seine Weise nimmt das in einem Zyklus von Gedichten furchtbarer Todesangst 1937 in Paris entstandene Jetzt unter uns die schizophrene Situation von Warten, Abstoßung und unauflöslicher Zusammengehörigkeit in Becketts En attendant Godot voraus. Aber diese Todesangst hat den Dichter unbefangen gegen die Anstößigkeit des Sterbens gemacht, und es wird gegen alle Konvention gesagt, wie es dem Menschen zumute ist, der nicht sterben will:
Gehn wir also jetzt und fressen Gras ...
Gehn wir, gehen wir, ich bin verwundet...
Rabe, gehen wir dein Rabenweib zu schwängern.
Vallejo hat dann in Amerika, in Peru und vor allem im Kreis der kubanischen Zeitschrift Orígenes stilbildend gewirkt, wie sonst nur Rubén Darío, Vicente Huidobro und Pablo Neruda.
Den Lagen des Amerikanischen gehört auch eine besondere Zärtlichkeit zur Tierwelt zu. Nicht sentimental, sondern immer so nah an der Natur, so scharf beobachtet, daß ihr das Unerwartete, noch zappelnd, wie in der frühen Tierplastik, abgewonnen wird — meist nicht ohne ein gutes Stück Ironie:
... Meerschweinchen täuschen
das analphabetische Schweigen
mit Vogelzwitschern und Taubengurren,
heißt es in den Indianischen Gedichten von Jorge Carrera Andrade, und ein andermal lesen wir von der Grille:
Seit je ein Invalide,
humpelt sie durch die Felder
auf ihren grünen Krücken.
Zur Zärtlichkeit gehört umgekehrt eine große Verletzbarkeit. Und das ist es, was der Auflehnung gegen die anonyme Vergewaltigung durch die Zeit jenen unvergeßlichen Ton gibt, der in Jorge Carrera Andrades (wohl dem stärksten der jüngeren Dichter Südamerikas) Biographie zum Gebrauch der Vögel im Ohr bleibt.
Gelegentlich ist von der sozialen Dichtung her ein gewisser reportageartig trockner, beschreibender Ton in der amerikanischen Dichtung zu Hause, wie ihn die Gedichte von Domingo Moreno Jiménez und Hector Incháustegui Cabral zeigen.
Schließlich sind aus einer Zärtlichkeit, die wesentlich amerikanisch ist, Alberto Baeza jene Kinderlieder gelungen, in denen die surrealistische Aufhebung der Grenze von Traum, Wunsch und Erinnerung in eine vollkommene Welt des Kindlichen führt.
Einen besonderen Platz nehmen im Amerikanischen die Folklore-Motive ein. Folklore — gleichgültig ob mißverstanden oder nicht — bedeutet bis zu einem gewissen Grad Auflehnung gegen die spanisch-europäische Tradition. Das gibt allem Folkloristischen in Amerika die agitatorischen Untertöne. Als in den 20er Jahren auf dem ganzen Kontinent die Negerlyrik aufblühte, als Darius Milhaud in seiner Création du Monde den Jazz in die Kunstmusik einführte und Kreneks Johnny spielt auf über die Bühnen ging, sind in Kuba die Gedichte von Nicolás Guillén entstanden, die Miguel de Unamuno zu Recht als zum Besten der spanischen Literatur gehörend bezeichnet hat. Man muß das p. 49 abgedruckte Lied um eine Schlange zu töten mit seiner anonymen Vorlage aus dem 18. Jahrhundert vergleichen, um zu sehen, welche dichterische Kraft bei Guillén am Werke ist:
NEGERLEIN
Mammi, Mammi,
schnell, schnell, schnell!
'ne Schlange sticht mich,
schnell, schnell, schnell!
'ne Schlange frißt mich,
schnell, schnell, schnell!
Sie sticht mich, sie schlingt mich,
schnell, schnell, schnell!
Sieh doch ihre Augen
wie glühende Kohle!
Sieh doch ihre Zähne
wie Nadelspitzen!
TEUFELCHEN
Die Schlange stirbt!
Sángala muleque!
Die Schlange stirbt!
Sángala muleque!
Die Schlange ist tot!
Calabasó — só — só!
Ich hab sie selber totgemacht!
Calabasó — só — só!
Das Bild, das diese Übertragungen spanischer Dichtung geben, ist notwendig unvollständig, nicht nur weil ich darauf habe verzichten müssen, den gerade in Spanisch-Amerika reizvollen Einflüssen von Rilke, George und Hölderlin, von Ezra Pound und T. S. Eliot, Eluard und den jüngeren Surrealisten nachzugehn. Es fehlen ganze Gruppen und Länder. Andere sind überbetont. Aber diese Übertragungen sind nicht als ein Überblick über die Literaturen der spanischsprechenden Länder gemeint. Was hier in einem Band steht, ist vielmehr das, was mich in der fremden Sprache so angesprochen hat, daß ich versuchen mußte, ob und wie es in der eignen klingt. Die Auswahl ist also weder exemplarisch noch repräsentativ ... es sind die Töne des Spanischen, die ich ins Deutsche bringen konnte.
Zum Schluß: die Gedichte sind für Hilde ins Deutsche übertragen worden, als die Sprache die einzige Heimat war. Ihr gebührt der Dank. Ihre Unbestechlichkeit war die feinste Waage für die Worte.
Silvester 1954/55 Erwin Walter Palm