Cross Over

Gedichte von Lyrikern aus verschiedenen Ländern
in deutscher Übersetzung von Johannes Beilharz,
die zuvor von 2014 bis 2017 im Feuilleton von FixPoetry
in der Rubrik Cross Over erschienen waren.
   
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Inhalt

Sascho Serafimov: Unterhaltung
John Ashbery: Paradox und Oxymoron
Peter Didsbury: Ein Rätsel
Gabriel Ferrater: Ein unmäßiger Sonnenuntergang
Max Jacob: Einer meiner Tage
Jeton Kelmendi: Die Königin der Nacht
Anuradha Majumdar: Wachablösung: in Nachfolge Vyasas
Octavio Paz: Unterbrechungen des Westens (1)
Barbara Guest: 20
Erling Kittelsen: Aus: Abiriels Løve
Mark Strand: Gedichte fressen
Samuel Noyola: Die Fabel von Messer und Mond
James Schuyler: Prozession
Louise Bogan: Nacht
Derek Walcott: Wald von Europa
José Antonio Labordeta: Aragon
MTC Cronin: Blaue Blume (zweite Version)
César Vallejo: Und wenn nach so vielen Worten
Kamala Das: Eine angebundene Ziege
Federico García Lorca: Landschaft
Mircea Petean: In den Bergen
J. V. Foix: Gott, mit dem Gesicht zum Meer
Robert Priest: Meine Besprechung der neuen Sprache
Jules Supervielle: Das grüne Tuch
Antonieta Villamil: Pferch der Betrogenen
André Breton / Philippe Soupault: Die Masken und die gefärbte Hitze
José Moreno Villa: Beobachtungen mit Jacinta
Marian Raméntol: Ein Gedicht sagt über niemand die Wahrheit


   

Sascho Serafimov

Unterhaltung

Ein Gedicht und ich trinken was im Café
und es beschwert sich,
dass sein Himmel nicht so blau,
sein Fluss nicht so klar ist,
dass ihm jemand die Liebste abspenstig gemacht hat
und die Leute es nicht mehr als Liebesgedicht betrachten, sondern als Regengedicht.
Und bist du frei? – frage ich das Gedicht, nur um die Unterhaltung fortzusetzen.
Freiheit! Wer hat dafür heute noch Verwendung?
Ich dachte, Freiheit wäre das Land der Poeten, doch stellte es sich
als Lüge, Legende, Mythos heraus – so etwas wie Atlantis.
Jeder redet davon, keiner hat’s je gesehen.

Mit freundlicher Genehmigung des Autors unter Zuhilfenahme des bulgarischen Originals aus einer englischen Übersetzung übertragen von Johannes Beilharz.

Разговор

Пием си с едно стихотворение в кафенето
и то се оплаква,
че небето му не било толкова синьо,
че реката му не е бистра,
че някой му откраднал любовта
и хората вече не го броели за любовно, а за дъждовно.
А свобода имаш ли? – питам стихотворението, колкото да върви приказката.
Къде ти свобода! Кой я ползва сега?
Мислех, че свободата е страната на поетите,
но се оказа лъжа, легенда, мит, нещо като Атлантида.
Всеки говори за нея, а никой не я виждал.

– Сашо Серафимов

Dieses und zwei weitere Gedichte von Sascho Serafimov in deutscher Übertragung sind hier zu finden.

Sascho Serafimov wurde 1953 in Dobritsch, Bulgarien, geboren. Dramaturg am Puppentheater Dora Gabe (1984-1991), Leiter des Kulturzentrums Jordan Jovkov (1993-2013) in Dobritsch. Vorsitzender des Schriftstellerverbandes der Region Dobritsch seit 1997. Seit 2009 Chefredakteur der Literaturzeitschrift Antimovski Han. Serafimov veröffentlichte seit 1979 acht Gedichtsammlungen.  

   

John Ashbery

Paradox und Oxymoron

Dieses Gedicht beschäftigt sich mit Sprache auf einer sehr einfachen Ebene.
Schau, wie es mit dir redet. Du schaust aus einem Fenster
Oder gibst vor, nervös zu sein. Du hast es, hast es aber auch nicht.
Du vermisst es, es vermisst dich. Ihr vermisst euch.
 
Das Gedicht ist traurig, weil es dein sein will und nicht sein kann.
Was ist eine einfache Ebene? Dies und auch andere Dinge,
Die ein ganzes System solcher Dinge spielen lassen. Spielen?
Ja, tatsächlich, doch, aber ich betrachte Spielen
 
Als etwas Tieferes, Äußerliches, ein geträumtes Rollenmuster,
Wie diese langen Augusttage ohne Nachweis
In ihrer Gnadenverteilung. Offene Enden. Und ehe du etwas merkst,
Ist es in Dampf und Schreibmaschinenrattern verlorengegangen.
 
Es ist noch einmal gespielt worden. Ich glaube, du existierst nur,
Um mich scherzend dazu zu bringen, genau das zu tun, auf deiner Ebene, und dann bist du nicht da,
Oder hast eine andere Stellung bezogen. Und das Gedicht
Hat mich leicht neben dich gesetzt. Das Gedicht bist du.
 
Aus dem amerikanischen Englisch von Johannes Beilharz.
 
Das Original dieses Gedichts, Paradox and Oxymoron, stammt aus: John Ashbery, Shadow Train, 1981. Die Übersetzung erschien ursprünglich in Akzente, Heft 6, Dezember 1982. Copyright © 1982 Carl Hanser Verlag / Johannes Beilharz.
 
Weitere von Johannes Beilharz übersetzte Gedichte von John Ashbery sind hier und hier zu finden.  

   

Peter Didsbury

Ein Rätsel

          Dem Tod nahe, der Staat ist ihm gleichgültig geworden, sitzt Kaiser Justinian
          bis spät in der Nacht wach. In Gesellschaft einiger alter Priester sucht er die
          makabren Rätsel des göttlichen Willens zu ergründen. An einem anderen Ort
          verblutet langsam ein Navigator im Heck eines getroffenen Bombers.

 
Justinian. Achtzig und ein paar Jahre alt. Ich bringe alles durcheinander.
Navigation ist das, glaube ich. Dunkelheit erschüttert in Aufständen
oder Flak. Gerade so viel Licht, dass es den Tisch beleuchtet.
Licht bleibt ein Problem. Wenn der Mond
durch die Palastfenster scheint, bricht er sich am Boden.
Sie fangen den Mond in Metallschüsseln und machen uns so aus.
Was habe ich hier verloren, vierzig Jahre danach? Oder sind es noch mehr?
Das Rot und Weiß der Karten erinnert mich an die Geschenke,
die meine gebeugten Priester dem Volk überreichen.
Die Hände vorgestreckt, sitzen sie wie erfroren in ihrer Montur.
Die Welt liegt in farbigen Würfeln auf dem Palastboden.
Eine flackernde Kerze. Über Aachen aus den Wolken hinabgetaucht,
das war Anastasis, hell wie der Tag. Und ich war Christus
und streckte die Hand nach Adam aus. Bekam ihn nie zu fassen.
Wie kann dieser unbarmherzige Vogel nur so hoch oben fliegen?
Welches Leben herrscht in der Taube? Wo ist die Dämmerung?
Entweder muss diese Nacht jetzt enden, oder sie wird ewig dauern. Ein Rätsel mehr.
Wieder und wieder stecke ich den Kurs ab, kann uns aber nicht heimbringen.
 
Anmerkung des Autors: Anastasis bezeichnet den Abstieg des Christus zur Hölle. Ich stellte mir einen Moment der Zeitlosigkeit im Augenblick des Todes vor, in dem diese Seelen aufeinander treffen und sich vermischen. Das Gedicht ergab sich aufgrund der gleichzeitigen Lektüre von Randall Jarrell und H. St L.B. Moss' The Birth of the Middle Ages, von dem ein Teil des Epigrafs abgeleitet ist.

Aus: Peter Didsbury, The Butchers of Hull, Bloodaxe Books, Newcastle upon Tyne 1982. Übertragen von Johannes Beilharz mit freundlicher Genehmigung von Peter Didsbury. 

   

A Riddle

          Close to death, and heedless of the State, the Emperor Justinian sits far
          into the night. In the company of a few old priests he is pondering the
          macabre riddles of the Divine Will. In another place, a navigator is
          slowly bleeding to death in the back of a doomed bomber.

 
Justinian. My eighty-somethingth year. I get mixed up.
Navigating, I think. Darkness crumping into insurrections,
or flak. Light reduced to what will serve a table.
Light remaining the problem. When the moon
shines through the palace windows, it breaks upon the floor.
They catch the moon in metal bowls, and use it to finger us out.
What am I doing here, forty years on? Or is it longer?
The red and white of the maps recall the gift
my stooping priests bestow upon the people.
Their hands reach forward. They sit frozen in their gear.
The world lies done in coloured cubes upon the palace floor.
A flickering candle. Dropping through cloud over Aachen
it was Anastasis, as bright as day. And I was Christ,
and I reached for the hand of Adam. Never grasping.
How can this remorseless bird be flying so high up?
What life obtains inside the Dove? Where is the dawn?
This night must either be ending now, or going on for ever.
It is one more riddle. I plot and plot, but cannot get us home.

Author's note: Anastasis is Christ's Harrowing of Hell. I was imagining a moment of timelessness at the moment of death in which these individual souls meet and are confused. The poem shews the effects of reading Randall Jarrell concurrently with H. St L.B. Moss's The Birth of the Middle Ages, from which part of the epigraph is adapted.

From: Peter Didsbury, The Butchers of Hull, Bloodaxe Books, Newcastle upon Tyne 1982. 

   

Gabriel Ferrater

Ein unmäßiger Sonnenuntergang

Diese menstruierende Sonne will nicht untergehen.
Schau dir diese rote Verrückte an, wie sie sich
dem sie bedeckenden Bettuch der Berge verweigert.
Wieder ein übertriebener Tag. Wieder geht ein Tag
unter, von dem du geglaubt hast, seine Farbe
werde nie wiederkehren, nie wiederkehren
wie das faulende Blut. Trockne dich ab, Licht,
zieh Wattestreifen aus Wolken heraus, reinige dich,
komm wieder, trink den klarsten Gin aus Mond und Meer.
 
(El ponent excessiu)
 
Aus dem Katalanischen übersetzt von Johannes Beilharz. Weitere Gedichte Ferraters in Übertragung von Johannes Beilharz sind hier zu finden.
 
Gabriel Ferrater (1922-1972) gilt als einer der bedeutendsten katalanischen Lyriker des 20. Jahrhunderts.   

      

Max Jacob

Einer meiner Tage

Wollte mit zwei blauen Töpfen an der Pumpe Wasser holen; vom Schwindel erfasst wegen der Höhe der Leiter; zurückgekommen, weil ich einen Topf zu viel hatte und nicht zur Pumpe zurückgekehrt wegen des Schwindels; ausgegangen, um ein Tablett für meine Lampe zu kaufen, weil aus ihr Petroleum ausläuft; nur quadratische Teetabletts gefunden, die für Lampen wenig geeignet sind, und den Laden ohne Tablett wieder verlassen. Mich auf den Weg zur öffentlichen Bibliothek gemacht und unterwegs bemerkt, dass ich zwei Steckkragen und keine Krawatte anhatte; nach Hause zurückgekehrt; zu Monsieur Vildrac gegangen, um ihn um eine Revue zu bitten, und diese Revue nicht mitgenommen, weil in ihr Jules Romains Schlechtes über mich schreibt. Nicht schlafen können wegen Gewissensbissen, wegen Gewissensbissen und aus Verzweiflung.
 
(Une de mes journées)
 
Aus dem Französischen übersetzt von Johannes Beilharz.
 
Der Dichter und Maler Max Jacob (1876-1944) verbrachte seine Jugend in seiner Heimatstadt Quimper in der Bretagne. In Paris schlug er ab 1897 eine künstlerische Laufbahn ein. Er lebte im Quartier Montparnasse, wo er sich auf dem Boulevard Voltaire mit Pablo Picasso ein Zimmer teilte. Durch Picasso lernte er Guillaume Apollinaire kennen, durch ihn knüpfte er Kontakte zu Jean Cocteau, Christopher Wood und Amedeo Modigliani, der ihn auch mehrfach porträtierte.
 
1915 Konversion vom Judentum zum Katholizismus. Nach einem zurückgezogenen Leben im Benediktinerkloster in Saint-Benoît-sur-Loire von 1921 bis 1928 kehrte er 1936 wieder nach Paris zurück.
 
1944 wurde er von der Gestapo verhaftet und zunächst ins Gefängnis von Orléans gebracht. Er starb am 5. März 1944 an einer Lungenentzündung im Sammellager Drancy.
 
Max Jacobs Werk steht dem Surrealismus nahe. Das oben übersetzte Prosagedicht stammt aus Le cornet à dés (erstmals im Selbstverlag veröffentlicht 1917, dann erneut 1945 bei Gallimard).

Weitere Übersetzungen aus Le cornet à dés sind hier zu finden.

      

Jeton Kelmendi

Die Königin der Nacht

Meine Hand erreicht dich nicht
heute Abend
Und auch meine Augen erreichen
deine Heimatstadt nicht
Königin
Da ist entweder etwas in dir drin
oder ich bin nicht gut drauf
Die Augen der Nacht schleudern Blitze
Sie verweißen den Himmel der Gedanken
über deinem Körper
Er ist noch nicht angekommen
im Königreich der Nacht
So neugierig du auch bist
die Schatten langer Hände sollen nicht dein sein
beim heutigen Abendmahl ohne Königin
 
Die Vorlage für dieses Gedicht stammt aus: Jeton Kelmendi, How to Reach Yourself, 2010 (autorisierte englische Übersetzung aus dem Albanischen von Peter Tase).
 
Deutsche Übersetzung von Johannes Beilharz mit freundlicher Genehmigung von Jeton Kelmendi.
 
Jeton Kelmendi wurde 1978 in Peja (Kosovo) geboren. Primäre und weiterführende Schulbildung in seiner Heimatstadt. Abschluss eines Journalismus-Studiums an der Universität Priština. Zur Zeit absolviert er ein weiterführendes Studium in internationaler Politik und Sicherheit an der Université Libre de Bruxelles.
 
Parallel zum Studium schreibt und veröffentlicht Jeton Kelmendi weiterhin Gedichte. Er arbeitet mit verschiedenen albanischen und ausländischen Medien zusammen und behandelt hauptsächlich kulturelle und politische Themen.
 
Dank seines ersten lyrischen Werks Jahrhundert der Verheißungen, 1999 veröffentlicht, das ein großer Erfolg wurde, hat Kelmendi eine große Anhängerschaft. Seine Gedichte wurden in 22 Sprachen übersetzt und in vielen Anthologien veröffentlicht. Er ist Mitglied zahlreicher internationaler Lyrikvereinigungen.
 
Kelmendi lebt in Brüssel.
Weitere Gedichte von Jeton Kelmendi in deutscher Übersetzung sind hier zu finden.

Anuradha Majumdar

Wachablösung: in Nachfolge Vyasas

Das Königreich fällt vom Gipfel des Himmels,
der Flötenspieler wärmt den Wind.
 
Moloche krachen taumelnd Klippen hinab,
auf denen die Weißsonne an einem Sonnwendabend spielt.
 
Wieder einer getötet, wieder eine Zinne, die fällt,
Staub zu Staub auch dieser, einst erster aller Herrscher.
 
Doch der Flötenspieler spielt eine klare Melodie,
die jedem Reich, ob neu geboren oder sterbend, ins Ohr dringt.
 
Selbst die breitlippigen Lügen mit weißen Spitzen in den Ecken
unterstehen dem Herzschlag der Zeit, seiner langen gegenseitigen Stille.
 
Die Harlekins spielen wieder für die Galerie, doch das Rad
schließt den Kreis und hält an, bis sich das Auge des Reichs im Inneren öffnet.
 
(Change of Guard)
 
Übertragung ins Deutsche von Johannes Beilharz mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Original und Übersetzung wurden erstmals veröffentlich in der von Johannes Beilharz herausgegebenen zweisprachigen Anthologie Inspired Poems | Inspirierte Gedichte.

Anuradha Majumdar, geb. 1957, lebte in Allahabad, Benares und Kalkutta, wo sie Englische Literatur studierte. Magister in Vergleichender Literatur. Lebt seit 1982 in Auroville, Südindien. Schriftstellerin und Choreographin. Buchveröffentlichungen von Lyrik und Prosa in Indien seit 1993. Zuletzt erschienen der Roman Refugies from Paradise (2004), das Jugendbuch Island of Infinity: Marina’s Dream (2005), der Roman The God Enchanter (2011) und das Jugendbuch Infinity Papers (2014). Das Gedicht Change of Guard wurde 2006 verfasst. Der in dem Gedicht genannte Dichter Vyasa gilt als Autor des indischen Nationalepos Mahabharata und lebte um 3000 v. Chr.

Octavio Paz

Unterbrechungen des Westens (1)

(Russisches Lied)
 
Wir bauen den Kanal:
Durch Arbeit werden wir umerzogen.
 
Der Wind bricht sich an unseren Schultern.
Wir brechen uns an den Felsen.
 
Wir waren hunderttausend, jetzt sind wir tausend.
Ich weiß nicht, ob morgen die Sonne für mich aufgehen wird.
 
War es Majakowski, der sagte: der proletarische
Hahn kräht zur Dämmerung des Menschen?
 
(Intermitencias del oeste (1))
 
Aus dem Spanischen übersetzt von Johannes Beilharz. Das Gedicht stammt aus: Octavio Paz, Ladera Este, 1969.
 
Der Mexikaner Octavio Paz (1914-1998), Nobelpreis für Literatur 1990, ist einer der Giganten der Literatur des 20. Jahrhunderts.
Weitere Übersetzungen von Gedichten von Octavio Paz sind hier zu finden.

Barbara Guest

20

Schlaf ist 20
                       Erinnerung an die
unbedeutende Flamencotänzerin
in Granada
                       die Bedeutung
erlangte, als du den Bergkamm
sahst
                       die trockenen Hügel
 
Was für eine idiotische Zahl!
 
Schlaf ist zwanzig
 
er ist ganz gewiss nicht zwanzig Schafe
so viele waren nicht in der Herde
unter dem kalten Scheitel der Sierra Nevada
 
Er ist eher wie 20 Busse auf der Madison Avenue
während ich in meinem Traumleben weitersumme
Jede Episode ist wichtig
das ist es! Sequenzen –
Bei mir läuft ein Drama in zwanzig Akten ab
das Theater des Aktiven
die Kritiker sind sicher schon da
sogar die Darsteller
sogar die Blumen auf der Bühne danach
sogar die Wiesenblumen,
gepflückt von der Frau des Ziegenhirten
jeden Tag frühmorgens (während ich schlafe)
unter dem Schneekegel
der Sierra Nevada
 
                       gelbe Kappen wie Kastagnetten
                       ich greife in meinen Blumenstrauß hinein
                       halb im Traum
                       und zähle zwanzig
                       Köpfe mit gelben Kappen
 
Blumen, die zwanzig Mal klicken,
weil sie sich gern wiederholen
 
wie auch ich, wie auch der Morgen
oder das Drama, das hoffentlich
viele Aufführungen erleben wird
 
Wie sogar diese Träume in den Köpfen
ähnlicher Leute
 
                       20
 
               Kastagnetten
 
(20)
 
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Johannes Beilharz.
 
„Auch wenn ihr Werk sich zeitweise spröde gibt und einen vor Herausforderungen stellt (wenigstens mich), ist es andererseits auch von einer wahren Großzügigkeit erfüllt. Oh dieses Werk. Es wird nie wieder ein Grün wie Barbara Guests Grün geben, nie wieder ein solches Gold, ein solches Rot. Und keinen Raum, der um ihre Worte schimmert wie ihr Raum.“
– Christine Deavel, Open Books, Seattle, Washington

Die amerikanische Dichterin Barbara Guest (1920-2006) gehörte mit John Ashbery, Kenneth Koch, Frank O’Hara und James Schuyler zur ersten Generation der New York Poets. Neben zahlreichen Gedichtbänden veröffentlichte sie den experimentellen Roman Seeking Air und, unter dem Titel Herself Defined, eine Biografie der Dichterin H. D. (Hilda Doolittle).

Das obige Gedicht stammt aus: Barbara Guest, The Blue Stairs, 1968.
 
Von Barbara Guest erschienen unter dem Titel Fallschirme, Geliebter ausgewählte Gedichte in Übersetzung von Johannes Beilharz (Wiesbaden: luxbooks 2008).
Weitere Gedichte von Barbara Guest in deutscher Übersetzung sind hier zu finden.

Erling Kittelsen

Aus: Abiriels Løve

Dann hörte ich etwas mit dem Ohr
und hörte in mir selbst lautlos
Worte, die von Einsamkeit sprachen,
und die eine Flut von Fragen beantworteten.
Ich sank in die Erde, in die Tiefe – himmelsgespaltene
Elemente kamen zusammen und brachen auseinander
wie ein gewaltiger Riss; Sorge ...
Flügelschlag und Angst vor dem Himmel
wird zu Wut und Blitz, der einschlägt
in eine Eiche und mich aufweckt,
meine Angst weg, die Erde mild,
und da stehst du, das ist mein bisheriges Leben,
Einsamkeit ist die ganze Erde ohne dich.
 
Aus dem Englischen unter Berücksichtigung des Norwegischen übersetzt von Johannes Beilharz.
 
Norwegisches Original:
 
Da hørte jeg med øret noe
og hørte i meg sjøl uten lyd
ord som sa meg ensomhet,
og dette svarte på en strøm av spørsmål.
Jeg sank i jord, i djup – himmel kløyvd
elementer knyttet seg sammen og brast
som en veldig tåre; sorg …
Vingeslag og angst mot himmelen
snur til lyn og raseri, slår ned
i et eiketre her jeg våkner opp
min redsel borte, jorda mild
og der står du, dette er mitt liv til nå,
ensomhet er hele jorda uten deg.
 
Abiriels Løve (1988)
 
Erling Kittelsen, geb. 1946, ist Autor von Gedichten, Fabeln, Romanen, Übersetzungen und Theaterstücken. Seine erste Gedichtsammlung Ville fugler erschien 1970, die neueste, Diktet løper som en by, 2010.
 
Das obige Gedicht stammt aus: Erling Kittelsen, Selected Poems / Utvalgte Dikt (2012).

Auszug aus dem Klappentext von Selected Poems: „Kittelsen ist als Dichter des Widerstands bezeichnet worden; er bildet ein notwendiges Gegengewicht zu unserer kommerzialisierten Kultur. Gleichzeitig eröffnet er neue Wege zu Mythologie und uralten Erfahrungen, die unsere Menschlichkeit tragen und erweitern.“

Mark Strand

Gedichte fressen

Druckerschwärze tropft mir aus den Mundwinkeln.
Mein Glück ist nicht zu fassen.
Ich habe Gedichte gefressen.
 
Die Bibliothekarin traut ihren Augen nicht.
Ihre Augen sind traurig,
die Hände hält sie im Kleid versteckt.
 
Die Gedichte sind weg.
Das Licht ist trübe.
Die Hunde sind auf der Kellertreppe und rennen herauf.
 
Ihre Augen rollen,
ihre hellhaarigen Beine brennen wie Unterholz.
Die arme Bibliothekarin stampft mit den Füßen und weint.
 
Sie versteht nichts.
Als ich mich hinknie und ihr die Hand lecke,
kreischt sie.
 
Ich bin ein neuer Mensch.
Ich knurre sie an und belle.
Ich tolle vor Freude in der büchersatten Dunkelheit herum.
 
(Eating Poetry)
 
Mark Strand, geb. am 11.4.1934, gest. am 29.11.2014, war einer der bekanntesten amerikanischen Lyriker der Gegenwart. Er veröffentlichte ab 1964 zahlreiche Gedichtbände, war aber auch Autor von Prosa, Übersetzer – z.B. von Rafael Alberti und Carlos Drummond de Andrade – und Herausgeber. Von 2005 bis zu seinem Tode war er Professor für Englisch und Vergleichende Literatur an der Columbia University. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Pulitzer-Preis (1999).
 
Das Original des übersetzten Gedichts datiert von 1968. In deutscher Übersetzung erschienen von Mark Strand Dunkler Hafen: Gedichte (1997) und Über Gemälde von Edward Hopper (2004).

Samuel Noyola

Die Fabel von Messer und Mond

                    Für Daniel Sada
 
Es leuchten die Messer
im Glanze des Mondes.
Was klingt da an?
 
Es klingen die Enten,
es dröhnen Gläser und Stimmen.
Jetzt ist wann?
 
Ich bestelle Bier,
sie bringen mir Sonne in einem großen Glas.
Was geht hier vor?
 
Jetzt weiß ich es:
der Mond ist ein Teller.
Und das Messer?
 
Es glänzt am Tag,
ist öffentlich, wach.
Und seine Schneide verwundet?
 
Seine Schneide strahlt auf
verurteilte Augen.
Und was will es?
 
Träumen will es
Tischgenosse oder Mörder.
Träumen.
 
(Fábula del cuchillo y la luna)
 
Aus dem Spanischen übersetzt von Johannes Beilharz. Das Gedicht stammt aus: Samuel Noyola, El cuchillo y la luna, 2011. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Edith Noyola, der Schwester des Autors.
 Der Mexikaner Samuel Noyola (geb. 1965 in Monterrey) war Mitarbeiter der Zeitung El Norte, der Beilage Aquí Vamos des Tagesblatts El Porvenir sowie der von der Universidad Autónoma de Nuevo León herausgegebenen Zeitschrift Deslinde. Er wurde früh von Octavio Paz gefördert. Sein Aufenthaltsort ist seit mehreren Jahren unbekannt. Weitere Gedichtbände sind Nadar sabe mi llama (1986), Tequila con calavera (1993) und Palomanegra (2003).

James Schuyler

Prozession

Gelassenes und violettes Zwielicht des Südens
die windverzerrten Oliven
so trübe neben der Straße
das Meer so sehr still heute Abend
berührt das Ufer
sachte mit Schaum
 
Schwarz gekleidet, weißer Schimmer
Pyramiden zitternden Goldes
winden sich die weiße Straße hoch
in nebligem Irisblau
 
ein Kreuz, eine Krone, ein Speer
 
die Luft ist durchnässt
 
die Nägel, der Hammer
 
Duft von Zitrone und Orange
 
die Geißel, ein Schwamm
 
Salzduft des Meers
 
(Procession)
 
Aus dem Englischen übersetzt von Johannes Beilharz. Dieses Gedicht entstammt dem Band A Few Days von 1985.

James Schuyler (1923-1991) gehörte mit John Ashbery, Barbara Guest, Kenneth Koch und Frank O’Hara zur ersten Generation der New York Poets. Neben Gedichtbänden, darunter Freely Espousing (1969) und The Morning of the Poem (1981, ausgezeichnet mit dem Pulitzer-Preis) veröffentlichte er auch die Romane Alfred and Guinevere (1958), A Nest of Ninnies (1976, zusammen mit John Ashbery geschrieben, deutsche Übersetzung Ein Haufen Idioten) und What’s for Dinner? (1978). Eine Sammlung von Gedichten James Schuylers in deutscher Übersetzung von Erwin Einzinger erschien 1991 unter dem Titel Hymne an das Leben.

„… nach dem Eintauchen in Schuylers Musik habe ich oft das Gefühl, dass sie alles enthält, was ich brauche – alles andere ist irgendwie darin vorhanden. Obwohl er in gewissem Sinn wieder und wieder dasselbe sagt, ist es, wie die Seiten des eigenen Tagebuchs, immer wieder neu. Die Gedichte sind selten „über“ etwas im traditionellen Sinne; sie selbst sind das etwas. Ihn erneut zu lesen bedeutet zu leben, als ob das Leben eine Erfahrung wäre, die man gerade vergessen hat und zu der man erneut erwacht.“
– John Ashbery im Vorwort zu James Schuyler, Selected Poems (2007)
 
Weitere Gedichte von James Schuyler in deutscher Übersetzung von Johannes Beilharz sind hier und hier zu finden.

Louise Bogan

Nacht

Die kalten fernen Inseln
Und die blauen Flussmündungen
Wo was atmet den rastlosen
Wind der Zuflüsse atmet
Und was trinkt die hereinkommende
Flut trinkt;
 
Wo Muschel und Seegras
Dem salzigen Schlag des Meeres aufwarten
Und die klaren Sternennächte
Ihre Lichter westwärts wenden
Um hinter dem Land unterzugehen;
 
Wo der an die Felsen geklammerte Puls
Sich immerwährend erneuert
Wo, wiederum in wolkenlosen Nächten,
Das Wasser den teilweisen
Untergang des Firmaments spiegelt;
 
– O erinnere dich
In deinen enger werdenden dunklen Stunden
Dass mehr sich bewegt
Als das Blut im Herz.
 
(Night)
 
Aus dem Englischen übersetzt von Johannes Beilharz.
 
Die amerikanische Dichterin Louise Bogan (1897-1970) hatte ihr literarisches Debüt 1923 mit der Gedichtsammlung Body of this Death. Nach Veröffentlichung eines zweiten Gedichtbandes mit dem Titel Dark Summer (1929) nahm sie 1931 eine Tätigkeit als Literaturkritikerin der Zeitschrift The New Yorker auf, die sie bis ein Jahr vor ihrem Tode ausübte. 1955 wurde sie mit dem Bollingen Prize in Poetry ausgezeichnet und veröffentlichte unter dem Titel Selected Criticism: Prose, Poetry eine Sammlung von Literaturkritiken. 1968 erschien unter dem Titel The Blue Estuaries: Poems 1923-1968 ein weiterer Gedichtband, dem das oben übersetzte Gedicht entstammt. 1970 veröffentlichte sie mit A Poet’s Alphabet eine letzte Gedichtsammlung. Posthum erschienen ihr Briefwechsel What the Woman Lived: Selected Letters of Louise Bogan, 1920-1970 (1973) und die Autobiografie Journey Around My Room: The Autobiography of Louise Bogan: A Mosaic (1980).

Weitere Gedichte von Louise Bogan in deutscher Übersetzung von Johannes Beilharz sind hier zu finden.

 

Derek Walcott

Wald von Europa


                                                            Für Joseph Brodsky

Die letzten Blätter fielen wie Noten von einem Klavier
und hinterließen das Echo ihrer Ovale im Ohr;
der Winterwald mit seinen schlaksigen Notenständern
sieht aus wie ein unbesetztes Orchester mit
auf verstreuten Schneemanuskripten gezogenen Linien.

Der Einlegekupferlorbeer einer Eiche
scheint hell wie Whisky durch die braunen
Glasziegel über deinem Kopf, während der wintrige Atem
der Mandelstamzeilen, die du rezitierst, sich
sichtbar wie Zigarettenrauch entrollt.

„Das Rascheln von Rubelnoten an der zitronenen Newa.“
Die Gutturale, zerfallene Blätter, krachen unter deiner
Exilszunge wie Harsch unter Stiefeln;
Mandelstams Zeile kreist mit dem Licht
in einem braunen Raum im öden Oklahoma.

Ein Archipel Gulag liegt
unter diesem Eis, wo das Salz, Mineralquelle
des langen Pfades der Tränen, diese Ebene
berieselt, die, hart und offen wie ein Hirtengesicht,
sonnenspröde mit unrasiertem Schnee verstoppelt ist.

Aus dem Schriftstellerkongress wächst im Flüsterton
Schnee heraus und kreist wie Kosaken um die Leiche
eines müden Choctaw, bis daraus ein Blizzard
aus Verträgen und weißem Papier wird, während wir
einen Einzelnen einer Sache wegen aus den Augen verlieren.

Jeden Frühling beladen diese Äste wie Bibliotheken
ihre Regale mit neuerschienenen Blättern, bis sie weggeworfen
und einem neuen Zyklus überführt werden – Papier zu Schnee –
und doch überdauert ein Wille am Nullpunkt des Erträglichen
wie diese Eiche mit ein paar unverschämten Blättern.

Als der Zug durch die vergewaltigten Ikonen des Waldes fuhr,
klirrten die Eisfelder wie Rangierbahnhöfe, dann ging es
durch die Nadeln gefrorener Tränen – die Bahnhöfe
kreischten Dampf – und er atmete sie in einem einzigen
Winteratem versteinerter Konsonanten ein.

Er sah die Gedichte verlorener Bahnhöfe
unter Wolken so weit wie Asien, in Gegenden,
die Oklahoma wie eine Traube verschlucken könnten –
nicht dieser baumschattigen Präriehaltestellen – in Räumen
von einer aller Entfernungen spottenden Verlassenheit.

Wer ist dieses dunkle Kind an den Geländern Europas,
das zusieht, wie der Abendfluss die mit Macht und
keinen Dichtern gestempelten Könige prägt, während
die Themse und die Newa mit Banknoten rascheln
und dann auch, schwarz auf gold, die Silhouetten des Hudson?

Von der gefrorenen Newa zum Hudson ergießt sich
unter den Kuppeln der Flugplätze, in den widerhallenden
Bahnhöfen der Fluss der Emigranten, die das Exil
so klassenlos gemacht hat wie gemeiner Schnupfen,
Bürger einer Sprache, die jetzt auch die deine ist,

Und jeden Februar, jeden „allerletzten Herbst“,
schreibst du, weit entfernt von den dreschenden Erntearbeitern,
dem Weizenstroh, das sie flechten wie Mädchen ihr Haar,
weit entfernt von Russlands vom Sonnenstich zitternden
Kanälen, ein Mann in einem Zimmer mit Englisch.

Die Touristeninseln meines Südens sind
auch Gefängnisse, bestechlich, und was sind Gedichte,
auch wenn es kein schlimmeres Gefängnis gibt, als sie
zu schreiben, und falls sie tatsächlich ihr Salz wert sind,
als Sätze, die die Menschen von der Hand in den Mund nehmen?

Von der Hand in den Mund, das Brot, das Jahrhunderte
überdauert, das dauert, wenn Regime gefallen sind,
wenn in seinem Wald aus Stacheldrahtästen
ein Gefangener in Kreisen geht und den einen Satz kaut,
dessen Musik die Blätter überdauern wird,

dessen Dampf der Marmorschweiß
auf Engelsstirnen ist, der niemals trocknen wird
bis Boreas die Pfauenlichter seines
langsamen Fächers von L.A. nach Archangelsk schließt
und das Gedächtnis nichts mehr wiederholen muss.

In göttlichem Fieber, hungrig und erschreckt,
zitterte Mandelstam, und jede Metapher
schüttelte ihn wie ein Schüttelfrost,
jeder Vokal wog schwerer als ein Grenzstein
„zum Rascheln von Rubelnoten an der zitronenen Newa“.

Doch nun ist dieses Fieber ein Feuer, dessen Schein
unsere Hände wärmt, Joseph, da wir grunzen wie Primate,
die in der Winterhöhle einer braunen Hütte
Gutturale austauschen, während draußen im Gestöber
Mastodone ihre Systeme durch den Schnee zwängen.

(Forest of Europe)

Aus dem Englischen übersetzt von Johannes Beilharz. Das Original dieses Gedichts stammt aus dem Band The Star-Apple Kingdom (1979). Die Übersetzung erschien ursprünglich in Akzente, Heft 6, Dezember 1982.

Ein weiteres Gedicht Walcotts in Übersetzung von Johannes Beilharz ist hier zu finden.

 

José Antonio Labordeta

Aragon

Staub, Nebel, Wind und Sonne,
wo’s Wasser gibt ein Garten.
Im Norden die Pyrenäen,
dieses Land ist Aragon.

Im Norden die Pyrenäen,
im Süden die verstummte Erde.
Durch die Mitte fließt der Ebro,
trägt Einsamkeit auf dem Rücken.

Im Osten, wird gesagt, gibt es Länder
mit Arbeit und Bezahlung.
Im Westen der Moncayo
wie ein Gott, der nicht mehr schützt.

Seit langer Zeit führen hier
alle Wege ins Nichts.
Wir sehen zu, wie der Ebro wegfließt
mit seiner Einsamkeit,

und zusammen mit ihm gehen
die Leute aus diesen Ebenen,
diesen Tälern, diesen Bergen,
diesen verkommenen Gärten.

Staub, Nebel, Wind und Sonne,
wo’s Wasser gibt ein Garten.
Im Norden die Pyrenäen,
dieses Land ist Aragon.

(Aragón)

Aus dem Spanischen übersetzt von Johannes Beilharz. Das Original (Liedtext) stammt aus Labordetas Langspielplatte Cantar i Callar von 1974.

José Antonio Labordeta (1935-2010) war ein spanischer cantautor (Sänger-Komponist), Schriftsteller und sozialistischer Politiker. Er veröffentlichte von 1968 bis zu seinem Lebensende mehr als zwanzig Tonträger, zahlreiche Gedichtsammlungen, Essays und Romane. Einige seiner Lieder, darunter das hier übersetzte Aragón, sind nicht nur in seiner Heimat Aragonien, sondern überall auf der iberischen Halbinsel so bekannt, dass sie den Status von Hymnen erreicht haben.

„1975, also gerade ein Jahr nach Veröffentlichung von Cantar i Callar, war ich Gast bei einer musikbegeisterten Madrider Familie, bei der ich viele mir bisher unbekannte spanisch‑ und katalanischsprachige Sänger und Sängerinnen zu hören bekam – darunter Soledad Bravo, Raimon, Chavela Vargas, Violeta Parra, Lluís Llach, Joan Manuel Serrat und eben auch Labordeta. Von dieser Reise kam ich mit vielen Schallplatten, um einiges ärmer an Geld und um sehr viel reicher an Kenntnissen der spanischen/katalanischen Musikszene nach Hause. Im Laufe der Jahre habe ich mich immer wieder an die Übersetzung von Texten verschiedener Liedermacher aus dem Spanischen und Katalanischen herangewagt.“

– Johannes Beilharz

 

MTC Cronin

Blaue Blume Zweite Version


                                  für Georg Trakl

Der Herbst kann ein Leben lang dauern.
Blau und schwarz kann es nie genug geben.
Das Wandern hat seine eigene Leidenschaft.
Ein Leiden ohne Richtung.
Nur einen Monat gibt es.
Nur einen großen Tod.
Das Land weitet sich in ungepflügte Felder hinein.
Einer der vorbeigeht ist ein kurzes Lied.
Aus Erde und grobem Dichtmaterial gemacht.
Keine Ohren, keine Augen mehr.
Weder Entrüstung noch Neigung.
Welche Art Verlangen ist unmäßig?
Welche Art Leben?
Landschaften treten auf wie Grenzen.
Reue sickert mit dem Atem aus dem Körper.
Winde sprechen mit Schatten.
Wege brechen an ihren Rändern ins Unendliche aus.
Wieder ein Herbst nach dem letzten Herbst.
Weiter weg der Rücken eines Mannes.
Wie gewöhnlich läuft er weg.
Immer wieder dreht er sich um und blickt auf seine Vollstreckungen zurück.
Leer.
Die Welt ist leer von ihm.
Nur die Zeit ist randvoll von seinen unendlichen Verkörperungen.
Überall verschwinden sie wie gefallener Schnee.

(Blue Flower Second Version)

Ins Deutsche übertragen von Johannes Beilharz mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Das Original stammt aus: MTC Cronin, The Flower, the Thing (2006).

Die australische Lyrikerin MTC Cronin wurde 1963 geboren und veröffentlichte seit 1995 über fünfzehn Gedichtsammlungen. Ihr Werk wurde in viele Sprachen übersetzt. Sie lebt in Conondale, Queensland.

Das oben übersetzte Gedicht und seine englische Vorlage sind Bestandteil der von Johannes Beilharz herausgegebenen und übersetzten Anthologie Inspired Poems | Inspirierte Gedichte von 2008. Sie ist hier im Internet zu finden.

César Vallejo

Und wenn nach so vielen Worten

Und wenn nach so vielen Worten
das Wort selbst erlischt?
Wenn nach dem Flügelschlag der Vögel
der stillstehende Vogel nicht überlebt?
Da wär’s doch wirklich besser,
ganz einfach alles hinzuschmeißen und damit basta!

Sind wir geboren, um vom eigenen Tod zu zehren?
Vom Himmel zur Erde aufzusteigen
kraft eigener Missgeschicke,
in Erwartung des Augenblicks, in dem der Schatten die eigene Dunkelheit löscht?
Da wär’s doch, offen gesagt, besser,
ganz einfach alles hinzuschmeißen, und das war’s dann!

Und wenn wir nach so viel Geschichte umkommen,
nicht etwa wegen der Ewigkeit,
sondern wegen einfacher Sachen, wie
zu Hause zu sein oder sich Grübeleien hinzugeben!
Und wenn wir dann feststellen,
aus heiterem Himmel, dass wir leben –
zu entnehmen der Höhe der Sterne,
dem Kamm und den Flecken auf dem Taschentuch!
Da wär’s doch, in Wahrheit, besser,
ganz einfach alles hinzuschmeißen, und zwar sofort!

Man wird sagen, dass uns
ein Auge schmerzt,
und auch das andere,
dass uns beide offenen Augen schmerzen.
Na und! ... Klar ... Also dann! ... Kein weiteres Wort!

(Y si después de tantas palabras)
 
Aus dem Spanischen übersetzt von Johannes Beilharz. Das Original stammt aus dem Band Poemas humanos, veröffentlicht 1939.
 
“Der peruanische Dichter César Vallejo, einer der größten des 20. Jahrhunderts überhaupt, starb am Karfreitag 1938 in Paris. Das Gedicht Y si después de tantas palabras ist eines seiner bekanntesten und wurde von Hans Magnus Enzensberger in einer 1963 bei Suhrkamp erschienenen Auswahl übersetzt. Inzwischen gibt es weitere Übersetzungen, u.a. auch von Curt Meyer-Clason (1998), die ich aber nicht gelesen habe. Meine Übersetzung ist kein Versuch, Enzensbergers Version zu verbessern, sondern bietet eine andere deutsche Variante an, die sich an manchen Stellen weniger Freiheit nimmt und an anderen mehr.”
– Johannes Beilharz
 
Erinnerung an César Vallejo von Nicolás Guillén, übersetzt von Johannes Beilharz

Kamala Das

Eine angebundene Ziege

Angebunden an einen Pfeiler aus
Unwissen
bin ich ein Tier,
das nur im Kreis gehen kann
und dann wieder
im Kreis zurück.
Bombenexplosionen bringen
mich zum Stehen. Ich verstehe
wenig von heutiger Psychologie
oder ihrer Säugemutter,
die Philosophie genannt wird.
Ich bringe es nicht über mich,
jemand weh zu tun, dem
ich nicht einmal vorgestellt wurde.
Ich kann den Hass nicht fühlen,
der heute so in Mode ist,
ich bin jemandes Haustier,
ein antiquiertes Spielzeug,
stehengelassen, damit die Zeit
ihre Arbeit tun und gemächlich
zerstören kann.
Ich bin die Ziege,
die hungrig
Platos Republik,
Kalidasas Shakuntala,
Gurdjieffs Analyse
seines eigenen Kults
und natürlich auch Walt Whitmans
Grashalme verschlang.
Ich gelte nicht
als gesundes Fleisch
für die Metzger,
die vorbeikommen, um die Gegend zu erkunden.
Ich sehe so kränklich aus
wie die Krankheit selbst,
niemand würde mich zum Abendessen
haben wollen.
Das betrachte ich als Segen
in diesem Jahrhundert der
Bigotterie, der Waffenbasare
und des wahllosen Tötens ...

(A Tethered Goat)

Aus dem Englischen von Johannes Beilharz. Quelle: Kamala Das, Selected Poems (2014). Das Original des Gedichts stammt aus dem 2009 veröffentlichten Band Closure.

Kamala Das (1934-2009) ist eine der großen indischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Sie stammte aus Kerala in Südindien und schrieb sowohl auf Malayalam als auch auf Englisch. Ihre Gedichte kreisen hauptsächlich um die Themen Liebe und Untreue, Körperliches und Geistiges. Aufgrund ihrer unverblümten Darstellung weiblicher Sexualität wurde ihr Werk in Indien häufig kontrovers rezipiert. Neben Gedichten verfasste sie auch Romane und Kurzgeschichten sowie eine Autobiografie (My Story, 1976). Sie wurde mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet.

Zu ihrem Tod im Mai 2009 übersetzte ich ihr Gedicht The Maggots.

Federico García Lorca

Landschaft

Das Oliven-
baumfeld
öffnet und schließt sich
wie ein Fächer.
Über dem Olivenhain
ein eingesunkener Himmel
und dunkler Regen
kalter Sterne.
Binsen und Halbschatten
zittern am Flussufer.
Die graue Luft kräuselt sich.
Die Olivenbäume
sind beladen
mit Schreien.
Eine Schar
gefangener Vögel
die ihre langen
langen Schwänze
im Dunkel bewegen.

(Paisaje)
 
Aus dem Spanischen übertragen von Johannes Beilharz. Dieses Gedicht stammt aus dem Band Poema del cante jondo von 1921.

Weitere Übersetzungen von Johannes Beilharz aus dem Werk von Federico García Lorca (1898-1936), einer der ganz großen Stimmen des 20. Jahrhunderts, befinden sich hier und hier.

Mircea Petean

In den Bergen

für Ştefana
 
die Felsen sind mit Moos
bedeckt – die Stille ist jetzt
viel deutlicher hörbar

am Bergsee steht der Rosenlorbeer
in Blüte – bereit,
in den Schattenkegel einer Wolke einzutreten

Pferde im Galopp plötzlich
ruhig geworden unter den Wacholderbäumen
und Rosenlorbeersträuchern

eine Gruppe von Tschechen oder
Polen am Rande des Waldes –
sie wurden von einem Ameisenhaufen verschluckt

ein Weg hat sich verloren
im Gras – Regen
und Wind schwingen weiter

drei Spinnen zerdrückt
im billigen Hotelzimmer –
der Marienkäfer trat aus der Landschaft heraus

(In the mountains)
 
Aus dem Englischen übersetzt von Johannes Beilharz mit freundlicher Genehmigung des Autors. Das Gedicht stammt aus: Mircea Petean, Sand Strikes (2006).

Mircea Petean, geboren 1952, ist Lyriker, Prosaschriftsteller, Essayist und Verleger. Seit seinem Debüt 1974 erschienen von ihm Beiträge in den wichtigsten rumänischen Literaturzeitschriften. Ab 1981 veröffentlichte er mehr als zwanzig Gedichtsammlungen, darunter auch mehrsprachige mit englischer und französischer Übersetzung. Gedichte von ihm sind in zahlreichen Anthologien vertreten, darunter auch in deutscher Sprache in Gefährliche Serpentinen, Rumänische Lyrik der Gegenwart, Hrsg. Dieter Schlesak (1998). Er ist Inhaber des Verlages Editura Limes in Cluj-Napoca.

J. V. Foix

Gott, mit dem Gesicht zum Meer

Wir hatten hinter uns Schritte und das Geraschel von trockenem Laub vernommen, von einem, der zugleich müde und eilig einherging. Es war der Maler Joan Miró, der uns einzuholen versuchte. Unter jedem Arm trug er ein ziemlich schweres, buntes Herz-Jesu-Bild. Er teilte uns mit, dass er Gott gesucht und sich letztendlich mit einer Annäherung zufriedengegeben habe. Einer aus unserer Gruppe – einer, der in den Cafés immer den Schal in der Garderobe vergisst – antwortete ihm, dass er Gott, stark und ewig, Anfang und Ende von allem, Vermesser des Absoluten, allgegenwärtig, zu jeder Stunde und in jedem Land, mit dem Meer zugewandtem Gesicht, geduldig und barmherzig bei den Alten und Rentnern sitzend finden könne, auf der Bank der Wenn’s-Nicht-So-Wäre.
 
(Déu, de cara al mar)
 
Aus dem Katalanischen übersetzt von Johannes Beilharz. Die Vorlage stammt aus: J. V. Foix, Obres Completes, 1985.
 
Der katalanische Dichter, Journalist und Essayist Josep Vicenç Foix lebte von 1893 bis 1987. Er war Herausgeber der avantgardistischen Zeitschrift Trossos und Mitarbeiter der Zeitschrift Monitor, die Joan Miró und Salvador Dalí der Öffentlichkeit vorstellte. Von 1929 bis 1936 leitete er den kulturellen Teil der Zeitschrift La Publicitat. Nach dem Ende des spanischen Bürgerkriegs arbeitete er einige Jahre in der elterlichen Konditorei und verzichtete auf seine literarische Arbeit. Foix fand erst spät ein breiteres Publikum und öffentliche Anerkennung. 1984 wurde er mit dem Premio Nacional de las Letras Españolas ausgezeichnet und bei der Preisverleihung von Juan Goytisolo als “bester lebender Dichter der Halbinsel” bezeichnet.
 
“Von J. V. Foix, den ich seit langer Zeit als einen der besten surrealistischen Dichter überhaupt hoch schätze, hatte ich bisher nur einige Gedichte ins Englische übersetzt. Das obige Prosagedicht liegt bereits in einer guten deutschen Übersetzung vor, die in mancher Hinsicht freier verfuhr als die hier vorgestellte, bei der aber, so fand ich, einige bildliche Inhalte weniger stark hervortraten als im Original.”
– Johannes Beilharz

Robert Priest

Meine Besprechung der neuen Sprache

Die neue Sprache ist ein Kinderspiel
Sie macht einfach vollkommen Sinn
Jede Äußerung hat ihren eigenen seidenweichen Algorithmus
Maßgeschneidert aus Abtastungen einer Vielzahl menschlicher Gaumen
Der durchschnittlichen Zunge, tonlich angepasst
An den maximierten Mund
Und geschmeidig mit der angebrachten Eleganz
Bei Bedarf
Jedoch unverblümt kraftvoll in anderen Formaten
Angemessen schmucklos ausgedrückt
Im Allgemeinen aber reines Schmuckwerk
Im richtigen Kontext
Komplett adaptierbar selbsterneuernd
Der Kosmos aller Teilchen wurde niemals zuvor
In solcher Feinheit abgebildet
Und doch klanglich – tonal – ein solches Entzücken
Keiner kommt mehr darum herum Poet zu sein
Es ist praktisch unmöglich schweigsam zu bleiben
Bei einer so unglaublichen Vielzahl benannter Konzepte
Die unmittelbar zum Sprechen verfügbar sind
Unübertroffen für Frachtbriefe, für Buchhaltung
Und ähnliche Quanten
Aber auch hervorragend geeignet für Flüchtiges, Unmessbares
Kann in einem Atemzug
Dissonante Gegensätze enthalten und lässt doch Raum für Akzente, Attribute
Exquisite neue Konjunktionen
Und ist so super windschnittig dass es schwierig ist den Mund zu halten
 
(My Review of the New Language)
 
Aus dem Englischen übersetzt von Johannes Beilharz mit freundlicher Genehmigung des Autors. Die Vorlage stammt aus: Robert Priest, Previously Feared Darkness, 2013.

Der Schriftsteller und Musiker Robert Priest, geboren 1951, lebt in Toronto, Kanada, und hat seit 1979 14 Gedichtsammlungen für Erwachsene und Kinder, 3 Theaterstücke, 3 Romane und 7 Musik-CDs veröffentlicht. Zusammen mit Nancy Simmonds schrieb er das Lied Song Instead of a Kiss, das ein Hit für Alannah Myles wurde. Er ist ein hervorragender Interpret seiner häufig sozial- und kulturkritischen Gedichte.

Jules Supervielle

  

Das grüne Tuch

Ich erwische über die Bande
Die traurige Weiße,
Während ich eigentlich die andere
Aus Elfenbein treffen wollte.

Grobschlächtige Gesichter
Verfolgen die Strecke
Dieses Mangels an Geschick.
“Wer ist denn der da,
Der keine von ihnen verfehlt
Und trotzdem nicht weiß,
Wie man uns Elfenbeinkugeln spielt?
Er schaut verblüfft auf
Das grüne Tuch ohne Gras
Und hofft, dass das vielleicht
Nur eine Sache der Zeit ist.”
Und da lachen sie nun,
Breit und ranzig, ein Lachen,
Das unbedingt herauswollte
Aus ihren bösen Mündern.
Und ich würde ihre Blicke
Gern vermeiden können
Und anderswo hinschauen,
Aber an keinem Ort der Erde
Gibt es ein Anderswo.
Ich finde sie niedergelassen
In der Tiefe meines Herzens,
Entspannt wie zu Hause,
Winzig klein geworden.
In Hemdsärmeln trinken sie Bier
Und wischen sich mit dem Rücken
Der Hand den Schnurrbart ab.
 
(Le tapis vert)
 
Aus dem Französischen von Johannes Beilharz. Die Vorlage stammt aus: Jules Supervielle, Le forçat innocent suivi de Les amis inconnus, 1930.

Jules Supervielle (1884-1960) ist einer der großen französischen Dichter des 20. Jahrhunderts, mit dem ich seit mehr als dreißig Jahren trotz etlicher Leseanläufe wenig anzufangen weiß. Ungeachtet der ihm nachgesagten und zweifellos vorhandenen Verständlichkeit, logisch nachvollziehbaren Metaphern und schlüssigen Syntax hinterließen mir die meisten seiner Gedichte so gut wie keinen Eindruck. Umso überraschter war ich bei einem kürzlich unternommenen erneuten Leseversuch, ein Gedicht zu entdecken, das durch seinen eher surrealen Sinn für Humor völlig aus dem Rahmen fällt, so dass ich mich gleich beflügelt fühlte, es zu übersetzen.

Antonieta Villamil

Pferch der Betrogenen

Antonieta Villamil / Pferch der Betrogenen
(Rodeo de la engañada)
  

Aus dem Spanischen übersetzt von Johannes Beilharz mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Die Vorlage stammt aus: Antonieta Villamil, Arcana de los dominios imaginantes, 2015.

Antonieta Villamil, geboren 1962 in Bogotá, Kolumbien, ist eine in Kalifornien lebende bilinguale Lyrikerin, Schriftstellerin, Sängerin und Kulturaktivistin. Sie veröffentlichte bisher 11 Bücher. Sie sagt über sich selbst, dass sie das Buch als Partitur in einer alchemistischen Mischung aus Stimm- und Gesangsrhythmen eingeborener amerikanischer Völker einsetzt. Sie ist Leiterin des Poesía Festivals in Los Angeles. Vom Cervantes Institute Literacy Now in New York wurde sie mit dem Preis für die beste Latino-Lyrikveröffentlichung des Jahres 2012 ausgezeichnet.

 

André Breton / Philippe Soupault


 

Die Masken und die gefärbte Hitze

   

Die Flammenflaschen sind süß so süß
Die Piraten der Vorstädte haben Schwarzes in den Augen
Grüne Klarheit Anbetung der Landschaften
Lackstiefel
Industrieunternehmen ohne Titel Chemische Vereinigung für Pendel
Schlaffheit der Nagetiere ohne Augen
Heißhunger blasser Bruthennen
Malvenfarbene Naivität der Händler schneller und brutal vertiefter Jalousien
Unter den Augen adoptierter Säuren machen die Scheinwerfer Mut
Grünes Wasser für Frauen
Zeitungen von vorgestern die Großmütter faseln endlos der Himmel ist blau das Meer ist blau die Augen sind blau
Vierfüßige Musikstrahlen indolenter Säbel
Die zerrissenen Wespen sind stumm es sind Vogelspinnenklageweiber Der Sack der Städte unter dem Meer die Tauben sind da die Lüster schneiden in die Wände und die Hirne
Es wird immer Wecker geben
Die Basilika erschreckter Sekunden
Die Bedeutung der Barometer Fische Teller
Basilikum und Reseda
Spanische Tänze Felswand der Gesten Sturzbachgerüst
Eine Kugel zerstört alles
 
(Les masques et la chaleur colorée)
 
Übersetzung von Johannes Beilharz. Aus: André Breton / Philippe Soupault, Les Champs magnétiques (1920)
 
Das von Breton (1896-1966) und Soupault (1897-1990) gemeinsam verfasste Buch Les Champs magnétiques beschrieb Breton als “Jugendwerk im starken Sinne des Begriffs, Frucht der ersten systematischen Anwendungen des automatischen Schreibens” und betrachtete es als das “erste Werk des Surrealismus (in keiner Weise Dada)”.
 
“Bei der Übersetzung bin ich spontan vorgegangen, wie es der automatisch geschriebenen Vorlage am meisten entsprechen dürfte. Das heißt, ich habe in Zweifelsfällen und bei Unklarheiten oder Mehrdeutigkeiten nicht lange überlegt und nachgeschlagen, sondern das festgehalten, was mir assoziativ zuerst einfiel oder stimmig schien.”
– Johannes Beilharz

 

José Moreno Villa


Beobachtungen mit Jacinta

 
     Schau, liebe Kinogeherin Jacinta,
schau dir genau an, was der Elefant als Nase hat.
Schau, was wir brauchen, um uns zu setzen;
schau dir das riesige Haus an des Mannes, den wir König nennen.
Schau dir dieses Schlafen, Aufstehen, Schlafen und Aufstehen an;
schau dir die Frau und den Mann an, die versprechen, sich niemals zu trennen;
schau dir das Gesindel an, das unsere Erde besitzt;
schau, wie die zarte Blume dem harten Boden entsprießt;
schau, wie die Stecken der Bäume
wohlschmeckende Nahrung hervorbringen.
Schau, was uns der Himmel so rein beschert:
Wasser, Blitze, Licht, Kälte, Hitze, Steine, Schnee.
Absurdes und Mysterium in allem, Jacinta.
 
(Observaciones con Jacinta)
 
Übersetzung von Johannes Beilharz. Aus: Diez siglos de poesía castellana, Hrsg. Vicente Gaos, Madrid 1975.

Der spanische Dichter, Übersetzer, Essayist und Maler José Moreno Villa (geb. 1884 in Málaga, gest. 1955 in Mexiko) studierte Chemie in Freiburg im Breisgau, dann Geschichte in Madrid. Er arbeitete in Madrid als Bibliothekar und später als Archivar. Nach Ausbruch des Bürgerkriegs übersiedelte er in die USA und später nach Mexiko. Er war Mitglied der Dichtergruppe Generación del 27, zu der u.a. auch Federico García Lorca, Rafael Alberti, Jorge Guillén und Vicente Aleixandre gehörten.


Marian Raméntol

  

Ein Gedicht sagt über niemand die Wahrheit


Wozu an einem apathischen Verb herumflicken,
wenn uns das Gedicht bis zum Tode betrügen wird?
 
Hochspannung in einem feuchten Handtuch, ist uns
sein rhythmischer Puls geeigneter Einschub zwischen Leitsätzen,
ist uns das Beben seines Adamsapfels,
wenn es das Blau der Nomen zusammenfasst,
die phonische Betonung der Ozeane
oder irgendeine andere Nichtigkeit. So ist es immer,
mit gedunsener und runder Glaubwürdigkeit
überfliegt es in Unterwäsche oder Abendkleid
sämtliche Landschaften, die nach Tragödie riechen,
alle minderjährigen Selbstmorde,
und wie viele Sackgassen
verschlingt es mit seinem Trauermarsch!
 
Ein Gedicht sagt über niemand die Wahrheit,
es schlägt ganz einfach die Zähne in die Pfütze,
verdreht uns und proklamiert schreiend
seine literarische Befugnis und unseren poetischen Tod.
 
(Un poema no suele decir la verdad de nadie)
 
Aus dem Spanischen übersetzt von Johannes Beilharz mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Das Gedicht stammt aus dem Jahre 2015 und wurde im literarischen Blog der Autorin veröffentlicht.

Marian Raméntol Serratosa (geb. 1966 in Barcelona) schreibt und übersetzt Lyrik und ist Herausgeberin der Kulturzeitschrift La Náusea. Mitglied der Musikgruppe O.D.I., mit der sie auch auftritt. Bisher hat sie zehn Gedichtsammlungen veröffentlicht. Zuletzt erschien Mi nombre doblado sobre la cama (2014). Viele ihrer Gedichte wurden in Anthologien und literarischen Zeitschriften veröffentlicht.

  


   
   
   
  

Anmerkungen des Übersetzers

Die Anregung, im Feuilleton von FixPoetry eine Serie mit von mir angefertigten Gedichtübersetzungen zu bringen, kam 2014 von Frank Milautzki, der damals an dem Lyrikportal mitwirkte. Einige der Übersetzungen waren nicht "neu", d. h. sie waren bereits zuvor in anderen Druck- oder Online-Veröffentlichungen erschienen. Im Laufe der Zeit kamen allerdings immer mehr "Originale" dazu.

Johannes Beilharz, Juni 2024

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